Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
befolgen hat, erträglich zu machen. Marie weiß das zu schätzen, und Lieutenant wird nach und nach zu einem Mann ihres Vertrauens. Wichtig für ihr Leben, denn es geht ja neben der Anstellung der Hauswarte, die nun im Keller ihre unmittelbaren Mitbewohner sind, auch um die Mieteinnahmen, die nicht mehr von ihr entgegengenommen werden dürfen.
Die ab jetzt hier tätige Hausverwaltung erhält zuvor die Überschüsse, aber es ist doch anders durch die ganz genaue Buchführung.
Alle Mieter senden die Mieten durch die Bank an den Verwalter. Ich sende Dir nächstens den Vertrag zum Durchlesen ein. Da ich doch immer gewohnt war, eine größere Summe im Schreibtisch zu haben, muss ich mir jetzt meine privaten Ersparnisse für alle irgendwie entstehenden Fälle zu halten suchen, die ja speziell auch für meine Auswanderung bereit sein sollen. Man weiß doch nie! Darum bin ich froh, durch Verkauf so verschiedener unnötiger Sachen aus dem Haushalt mir einen kleinen Reservefond geschaffen zu haben, als eiserne Ration.
Ich sehe gerade jetzt wieder, wie glücklich ich dran bin, unter meinem eigenen Dach zu sitzen, da 6000 untergebracht werden müssen, zusammengestopft wie unbeschreiblich. Meine kleine Wohnung kam gottlob nicht infrage.
Einen Zentner Kartoffeln melde ich mir nachher bei meiner Gemüsefrau auf alle Fälle an. Eingeweckt habe ich leider dieses Jahr gar nichts, weil ich eben nichts bekam, denn nachmittags zwischen vier und fünf war natürlich ausverkauft. Fein, dass Du Dir Pflaumenmus gemacht hast, isst Du ja so gerne und ist auch gesund.
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»Ein Jeder ist unglücklich in seiner Weise.«
MARIE AM 26.
AUGUST 1941
In Ilses Notizbüchlein finde ich ihren Lesestoff. Im Februar 1941 ist es Joseph Conrads Herz der Finsternis . Auf ihrer Flussreise mit Marlow, bei der niemand den Weg kennt, ist man schon verloren, während man noch ruft: »Ich bin gerettet!«
»Nein! Seinen Todeskampf scheine ich durchlebt zu haben. Allerdings hatte er ja auch jenen letzten Schritt getan, er war auf die andere Seite hinübergegangen, während mir erlaubt worden war, meinen zögernden Fuß zurückzuziehen. Und vielleicht ist das der ganze Unterschied; vielleicht sind alles Wissen und alle Wahrheit und alle Aufrichtigkeit just in diesen einen winzigen Augenblick konzentriert, da wir über die Schwelle des Unsichtbaren treten. Vielleicht!«
Joseph Conrad, Herz der Finsternis
In jedem Brief von Marie muss Ilse über die Schwelle des »Unsichtbaren« treten – wann bilden sich Gewissheiten, wann Ahnungen, dass Marie den mörderischen Blaupausen der Täter nicht mehr aus eigenem Willen entfliehen kann? Was weiß der Beschützer Salin, was berichten die Frauen am Stapfelberg? Wohin mit dem Mutterdrängen, dem Mutterverdrängen? Hat Ilse Seelenverwandte, mit denen sie den Briefkasten bereden kann;hat sie Freunde, die der nervösen und in sich zerrissenen Frau zureden können, zuhören wollen? Wer will Maries langes und zähes Sterben in Ilses Seele gemeinsam mit ihr tragen, wer traut sich stattdessen, den schnellen Tod im fremden Grab zu besinnen? Wer traut sich überhaupt, zu Ilse zu sprechen? Kinderfragen kosten Liebe.
Wie lebt Ilse in den Tagen von Herz der Finsternis in ihrem gemütlichen Salon an der Hardstrasse 63? Es gibt keine Bilder und auch keine Briefe, die das beschreiben. Wir kennen die »Zweimal die Woche Briefe« aus Berlin voller Fragen und Aufträge, Erkundungen und Einlagen zum weiteren Versand, mit Botengängen und natürlich der Aufforderung, alles umgehend und ausführlich zu beantworten. Immer öfter beklagt sich Marie über Ilses Schlampereien und unbeantwortete Briefe. Anders als die Mutter, deren ganze Vitalität vom täglichen Ein- und Ausgang der umfangreichen Korrespondenz gespeist wird, umgeht Ilse ihren Briefkasten immer häufiger. Sie ist neunundzwanzig Jahre, will sich nicht Tag und Nacht »fernsteuern« und herumkommandieren lassen. Auch muss sie mit Oertl an der Dissertation arbeiten, die Vorlesungen im neuen Kollegiengebäude am Petersplatz besuchen und im Staatsarchiv die Protokolle des Direktoriums der Basler Kaufmannschaft flöhen. Sie hat zu tun.
Die Fasnachtstage 1941 verbringt sie gemeinsam mit Fred in Davos. Ilse ist nun eine gute Skifahrerin, eine sportliche Frau, wie ich auf Fotos sehe. Ich kann es deutlich spüren, nur in der freien Natur erscheint sie unbeschwert und glücklich! Herab vom »Zauberberg«, zurück in den Niederungen, besucht sie eine Klee-Ausstellung im
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