Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Gesuche, in Basel, Zürich oder Genf zu verweilen, werden den gesamten Krieg über bewilligt. Ilse hat nun einen Freund, der weiß, »wie es geht«, und der Leute kennt, die wissen, »wie man es macht« … warum nicht auch für die Mutter?
Höchste Zeit wäre es im Sommer 1941 auch für Marie, die dauernd gerettet werden möchte, aber den Koffer nicht durch die Tür kriegt, zu handeln und alles stehen und liegen zu lassen, statt sich in jedem Brief über die Umstände auszulassen und Ilse zu drangsalieren. Ende Juli hat sie ein Erlebnis, eigentlich erlebt sie ein Gleichnis, das ihr den Einblick in die Bestimmung gewährt, doch es öffnet ihr die Augen nicht.
Berlin, den 25.
Juli 1941
Liebste Ille,
ich komme mir vor wie im Kampf ums Leben, den heute Morgen ein Mäuschen durchmachen musste. Als ich heute früh zum Waschen ins Badezimmer kam, sitzt gemütlich in der Wanne eine Maus. Erschreckt öffnete ich schleunigst den Wasserhahn, goss dazu noch grausam mit der Badeschüssel tüchtig Wasser auf ihr Haupt.
Es war scheußlich anzusehen, wie das arme Wesen sich aus dieser unangenehmen Todesgefahr zu retten suchte, immer wieder an der Wannenwand emporklettern wollte. Mittlerweile war die Wanne schon halb voll Wasser, und die Maus schwamm immer noch kämpfend in dem großen Meer, bis ihr endlich die Puste ausging. Erstaunlich, wie lange die Kraft um den Lebenskampf anhielt. Die Moritat verdarb mir meinen ganzen Morgen, aber es musste doch sein, dass sie im Klosett ins Jenseits befördert wurde. Such is life! Vielleicht auch das meine!
Marie ist erschüttert und bleibt, Ilse fährt in die Sommerferien. Ob sie den »Maus-Brief« vom 27.
Juli noch vorher bekommen hat? Ob sie gedrängt hätte? Ilse holt bei Herrn Merz die Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung bis Oktober ab und reist dann, unter Mitnahme ihres Fahrrads, Anfang August über Chur nach Flims, wo sie Fred trifft. Wie gewohnt steigt er im besten Haus ab, um Golf zu spielen und sich abends für das Diner auf der Terrasse fein zu machen. Vermutlich halten sich auch hohe Offiziere der Armee und Bekanntschaften aus Zürich im Hotel auf. In den Kriegsjahren ist man in den großen Hotels »unter sich«, da fallen Ilse und Fred auf. Doch wie schon an der Côte d’Azur langweilt Ilse das mondäne Leben der Grandhotels, und schon am zweiten Tag zieht es sie mit dem Velo hinaus in die Landschaft.
Sie fährt nach Disentis, wo sie das mächtige Benediktinerkloster besucht. Sie isst für 3,70 Franken zu Mittag, kauft sich einen Topf Berghonig für 3,50 und fünf Postkarten für 40 Rappen plus Porto. Eine schickt sie an Marie, die sich am 14.
August für die »Ansichtspostkarte aus Disentis und den Brief aus Flims« bedankt.
Ich freue mich, dass Du schöne, erholsame Tage hast, die Dir hoffentlich recht guttun werden: Schade nur dabei ist, dass durch Fredis Wesen und Getue man selber nie zum rechten Genuss kommt. Ich habe es ja selbst erlebt, dass man nie weiß, was man mit ihm anfangen soll, furchtbar ist das leider und wird natürlich niemals anders sein. Oft ist ja doch das gefüllte Portemonnaie ausschlaggebend, scheußlich natürlich in vielen Situationen für Dich. Trotzdem mein Gutes, keine Kritik, er ist doch der Beste und mir Liebste von allen, weil er gut zu Dir ist und Dich lieb hat. Dass Ihr Euch nicht eilt, nach USA zu gehen, ist ja klar, warum denn auch – Ihr lebt auf einer anderen Welt.
Hier wird die Wohnungsnot durch die Bombardements natürlich immer größer. Nachts von ein bis drei Uhr ein paarmal die Woche, ekelhaft, ich bleibe im Bett und zittere vor Angst.
Lebe wohl, mein Geliebtes, und genieße mit Wohlbehagen Deine sehr verdienten Ferien. Hoffentlich hat die Paukerei des Studiums bald ein Ende. Mit herzhaften, innigen Küssen – Deine Mutti
Diese Karte und noch mehr Post aus Berlin – und auch aus Rom – findet Ilse im Basler Briefkasten erst nach Ende der Ferien. Am Freitag, den 8.
August, so steht es im Notizbüchlein, unternimmt sie eine Bergwanderung zu der 2102 Meter hoch gelegenen Segneshütte . Sie bleibt über Nacht und zieht das Matratzenlager und den klaren Sonnenaufgang dem »Getue« im Hotel Waldhaus vor. Am 15.
August fährt sie mit dem Velo zu den Mineralquellen von Rhäzüns – danach kehrt sie nach Basel zurück, wo sie von Edgar Salin erwartet wird, denn Ilse ist auch im dritten Jahr seines »Junggesellendaseins« eine wichtige Stütze im Salin’schen Haushalt, das weiß auch Marie:
Ilse
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