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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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eigentlich egal sein. Wenn wenigstens ich selbst und damit wir beide uns noch ein paar Jahre hätten; aber lieber Gott, auch diesen bescheidenen Gedanken sehe ich schwinden, und das ist so grausig und bald unerträglich. Grete Treitel hatte zwei Rote-Kreuz-Briefe, von Hans, TEL AVIV, im September geschrieben, dass es ihm unverändert gut ginge, auch Kanitzens, LONDON, und dass sie glücklich seien, uns hier gesund zu wissen. Das war im September, inzwischen hat sich vieles geändert. Heute wird Willi 58 Jahre; hat sich sein Alter wohl auch etwas besser gedacht, immerhin tauschte ich mit ihm (die Ausreise nach den USA).
    Mein Geliebtes, was machst Du? Sonst konnte man fragen, was Du Weihnachten machst, diesmal vergeht mir die Lust, Dich nach Deinen Vorbereitungen zu fragen. Heute Abend ist Chanuka, viel hätte ich drum gegeben (und geben können!), bei Dir zu sein. Aber ganz gebe ich die Hoffnung noch nicht auf.

    Bleib gesund und lass Dich herzhaft küssen,
Deine Mutti
    Am 17.

Dezember, einem nasskalten, nebeligen Mittwoch, verabredet sich Ilse mit Fritz Jenny, dem Vorsteher der Kantonalen Fremdenpolizei. Sie will noch einen letzten Versuch machen, Marie in die Schweiz zu bringen. Dass es in Berlin keinen Pass mehr für die Mutter geben wird, dass es keine Reiseerlaubnis mehr geben wird, weiß Ilse, und dennoch, vielleicht findet sich durch Artur Sommer und die Frauen vom Stapfelberg in letzter Minute ein Weg in die Schweiz. Dann zumindest hätte Marie gültige Einreisepapiere und Ilse ein besseres Gewissen. An diesem Mittwoch tut sie, wozu sie in der Lage ist. Fritz Jenny, der, wie die Basler National-Zeitung am 2.

Februar 1946 schreibt, »inseiner gewissenhaften Art, die doch gegen das Publikum wie gegen seine Untergebenen von einem menschlichen Mitgefühl bestimmt war«, kann Ilses Verzweiflung sehen. Immerhin kennen sich die zwei schon seit über fünf Jahren, und Ilse könnte ihm auch aus Maries Briefen vorgelesen haben. Jenny weiß, was »draußen« vor sich geht, Flüchtlinge sind sein »Geschäft«. Er verspricht, den Antrag zu befürworten. Entschieden wird aber in Bern, in der Polizeiverwaltung von Dr.

Rothmund, doch er sagt zu, rechtzeitig nachzuhören. Das kommende Jahr könne nur besser werden, Krieg und Judenverfolgung dauerten nun schon viel zu lang. Ein wenig erleichtert verlässt Ilse Jennys Büro im neuen Gebäude zum »Spiegelhof«.
    Siebenundneunzig Briefe hat Marie im zu Ende gehenden Jahr an Ilse geschrieben – vier fehlen noch bis zum 31.

Dezember.

    Berlin, den 18.

Dezember 1941
    Meine geliebte Ille,

    ich bin verzweifelt, noch immer ohne Nachricht von Dir zu sein. Deine letzte Karte schriebst Du mir am 4. des Monats. Was ist um Gottes willen denn los? Bist Du krank? Die schrecklichsten Gedanken zermartern meine ohnehin fertigen zusammengebrochenen Nerven. Ich sitze hier vollkommen stupide herum und warte, was bei Dir los ist. Ist vielleicht Post von Dir verloren gegangen, jedenfalls weiß ich, dass ich seelisch bald am Ende bin, viel kann ich nicht mehr mitmachen, das merke ich, wenn ich mit Dir die Verbindung verliere, fürchte ich für mich.
    Es gehört mir und meiner Familie nichts mehr, nur noch zur Benutzung überlassen und muss pfleglich behandelt werden; ist mir schließlich auch ganz wurscht, es haben Leute schon mehr verloren, nur Dich sehen will ich noch einmal.
    Unfähig, mehr zu schreiben, bitte ich weiter zum Himmel und bin mit innigsten Küssen in größter Sorge

    Deine Mutti

    Berlin, den 21.

Dezember 1941
    Mein Geliebtes,

    Du rechnest noch immer damit, dass ich einen Pass erhalte, völlig indiskutabel, also, wenn Du nichts besorgen kannst oder sonst einer, dann ist es hoffnungslos.
    Den richtigen Begriff meiner Lage scheinst Du noch immer nicht zu haben, was ja auch eigentlich kaum verständlich ist, mehr ist dazu nicht zu sagen, denn ein Außenstehender kann einfach meinen Kummer und die Tragweite nicht begreifen.
    Ich habe heute schon so viel geweint bei Baums und bin davon ganz kaputt, ihre Abreise [Deportation] steht bevor. Für mich kann ich diesen Gedanken einfach nicht fassen und verliere noch meinen Verstand darüber, viel Zeit bleibt mir nicht mehr.
    Mir fehlen, ebenso wie Dir, die Worte für alles. Ich will bitte nichts geschickt haben, außer es kommt persönlich einer her und bringt mir Grüße von Dir. Was wird aus uns?
    Mein Herz ist so voll, aber die Feder will nicht mit. Dafür erwarte ich umso mehr von Dir. Und vielleicht endlich

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