Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
nächsten Morgen trifft sich Ilse im Zürcher Schauspielhaus mit Kurt Hirschfeld. Sie kennen sich aus Berlin. In Ilses »Fragmenten« lese ich:
1930, Begegnung mit Kurt Hirschfeld, er war Mitarbeiter am Rundfunk und suchte sich auf der Schauspielschule eine »Knabenstimme« für seine Radiofassung von Joyces Ulysses aus: mich! Es war eine Nachtvorstellung, und da wir kein Geld für ein Taxi hatten, liefen wir vom Reichskanzlerplatz bis zum Bayerischen Platz, wo ich zu Hause war, zu Fuß.
Hirschfeld gelingt die Emigration. Er lebt nun als Dramaturg in Zürich am legendären Schauspielhaus. Und wieder klingt Berlin in Ilses Ohren. Neun Jahre sind vergangen, seit sie mit Henny Porten auf ihre Tournee ohne Wiederkehr gegangen ist. »Hirschi« wird ein guter Schweizer Freund. Ich erinnere mich oft an ihn in der Dolderstrasse und im Theater, wo ich viele Jahre lang Freikarten in seinem Büro abholen darf.
Am Samstag, den 10.
Januar fährt Ilse zurück nach Basel, wo sie ins Kino geht: Marx Brothers. Danach honeymoon sunday , am Nachmittag Kaffee im Spillmann am Rhein. So beginnt Ilse ihr Jahr 1942. Doch die gelassene »weiße Zeit« hält nicht lange vor. Am Montag liegt schwere Post von Marie im Briefkasten.
Berlin, den 4.
Januar 1942
Mein Einziges, Geliebtes,
nach meiner Karte vom 31.
Dezember, deren Nachricht mir einen Nervenschock versetzte, war ich aufforderungsgemäß nun gestern auf der betreffenden Stelle zur Personalienaufnahme. Man machte Notizen (übrigens alles unter Befehl und Kontrolle der Obrigkeit) und fragte, ob ich einen Erwerb gelernt habe und arbeiten könnte, was ich verneinte wegen Gefäßkrämpfen und Kreislaufstörungen in Händen und Füßen, worüber ärztliches Attest noch nicht vorlag, aber avisiert sei. Schwere Gehbehinderung durch spinale Kinderlähmung, schrieb der Herr ebenfalls noch dazu. Also, ich habe mich vorläufig ein wenig beruhigt und bin auch durch den Herrn getröstet worden. Kann sein, dass ein kurzer Aufschub mich vor der Hölle rettet. Um mein schweres, armes Herz wieder aufzurichten, fuhr ich danach von der Oranienburger Str., der ehemaligen Synagoge, wo sich all die diesbezüglichen Büros befinden, nach Unter den Linden ins Schweizer Haus, wo jetzt auch die Visaabteilung ist.
Schon wenn ich mich in diesem schönen Haus befinde, habe ich ein beglückendes, hoffnungsvolles Gefühl, als stände ich auf dem geliebten freien Schweizer Boden. An den mich empfangenden Herrn richtete ich als Einleitung etwa folgende Worte: »Ich möchte eine Auskunft von Ihnen erbitten, die mir in meiner Not etwas Hoffnung geben soll.« Und erzählte ihm von Deiner Mitteilung respektive Erkundigung, dass einer Einreise nach dort nichts im Wege stände, dass Du ein Gesuch dieserhalb nach Bern gerichtet, und ob, falls die genehmigt werden würde, ich hier noch Schwierigkeiten zu erwarten hätte? Er fragte mich danach, ob Du mit einem Schweizer verheiratet wärst (ich sagte verlobt), wie lange Du dort wohnst? Ich sagte sechs Jahre, sagte auch, dass meine Ausreise nach Kuba vollkommen fertig und finanziert sei und dass ich vom Kubanischen Konsulat aus Genf eine Aufforderung erhielt, das Visum abzuholen. Er sagte, wenn Kuba nicht im Krieg wäre, bekäme ich einen Aufenthalt in der Schweiz als Wartezeit für die USA. Jetzt aber wäre es fraglich. Weil Du jedoch dort ansässig bist, will er ein Gesuch von mir annehmen, was er sonst strikt, weil zwecklos, ablehnt. Er ließ mir vier Formulare und zwei Extraformulare für Emigranten geben, welche ich ausfüllen solle und mit vier Fotos hinbringen. Morgen werde ich das besorgen.
Werde dabei fragen, wie lange der Bescheid dauern wird, denn wochenlang zu warten hat keinen Zweck, alles ist eilig, und ich warte mit größter Ungeduld auf Dich, glaubte heute, Post von Dir zu haben – leider nicht. Zwei Karten schrieb ich Dir am 21.
Dezember und Brief Nr.
11 am 24.
Dezember, worauf ich sehr auf Antwort warte. Ob Du nach Arosa gefahren bist, weiß ich auch nicht, ich nehme an, dass nicht, nachdem Du am 30.
Dezember das Glückwunschtelegramm noch in Basel aufgabst.
Und was ist mit Hiro? Kommt er her? Ich hoffe sehr darauf, alles Strohhalme, an die ich mich klammere, da ich keine Zeit habe, an reguläre Wege zu denken. Ich glaube, es erübrigt sich, Dir meine Nervosität genau zu schildern, bin auch seelisch dazu nicht imstande. Nur auf Dich kommt alles an, also ich warte darauf.
Die Bücher von Weber sind nicht vorrätig, auch
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