Ich wollte Hosen
genauso in der Nacht nicht an ihn gedacht. Die Nacht gehörte nur mir allein, sie war dazu da, daß ich an meine Träume dachte, und niemand war bei mir. An Nicola habe ich nie gedacht, er war das Sprungbrett. Und wir redeten nicht, über gar nichts. Auf dieser Bank sitzend handelte er, und ich wartete darauf, daß er handelte. Ich fühlte nichts, sein Kuß war das Eindringen einer Zunge, die sich bewegte und in meinem Mund herumwanderte ...
Aber da kam ein älterer Herr vorbei, blieb stehen, kam heran und gab mir eine Ohrfeige und schrie: » Buttana! Bagascia! Nutte! Dirne!« Er war ein Onkel von mir. Er packte mich am Arm und schleifte mich so die ganze Strecke bis nach Hause. Und der Schmerz war so groß, daß ich nicht einmal an die Folgen denken konnte.
Mein Vater war auf dem Feld, meine Mutter bügelte gerade. Mein Onkel redete, und ich habe noch jetzt den Abdruck des Bügeleisens auf meinem einen Arm. Meine Mutter geriet in Weißglut, während ich in mein Zimmerchen lief und hinter mir zusperrte. Mein Vater ließ nicht auf sich warten und kündigte sich durch schreckliche Schläge gegen die Tür und durch hitzige Tiraden an. Ich machte die Tür nicht auf, und mein Vater trat sie ein. Ich dachte daran, daß wir keine Vorhänge mehr in Reserve hatten, dann fingen die Gürtelhiebe an, und ich dachte nicht mehr.
Als ich wieder zu Bewußtsein kam, begriff ich, daß mein schulisches Leben ein Ende gefunden hatte und daß mein erster Traum dabei war, in Erfüllung zu gehen: Ich war eingesperrt. Auch der zweite hatte sich erfüllt, zumindest aus der Sicht meiner Eltern: Ich war eine Nutte. Und wie eine solche wurde ich behandelt. Ich blieb in den vier schwarzen Wänden, am Webstuhl und vor den Einmachtomaten. Ich mußte mich rehabilitieren, meine Verfehlungen vergessen machen und meinem Vater die Zeit geben, jenen heiligen Mann zu finden, der über meine Vergangenheit hinwegsehen und mich zu seiner Braut erwählen würde. Das war zwar nicht gerade mein Wunsch, aber Nutten haben keine Wünsche oder Meinungen, und niemand kam es in den Sinn, mich danach zu fragen.
Jeder Tag brachte eine Gewalttat mehr, die mein Verstand erleiden mußte, und ich kam zu dem Punkt, daß ich mir wirklich einen Ehemann wünschte, um das Schweigen meines Vaters und das Weinen meiner Mutter nicht länger ertragen zu müssen.
Es begann mit leisem, fast unmerklichem Schluchzen, nahm dann an Intensität zu, bis es zu Flüssen, ja Ozeanen an Tränen anschwoll. Sie sagte immer wieder, sie hätte nie geglaubt, daß ihre Tochter, ausgerechnet ihre Tochter, und da brach sie in Tränen aus. Ich war wirklich drauf und dran einzusehen, daß ich etwas Schreckliches gemacht hatte, wenn da nicht dieser Teil von mir gewesen wäre, derjenige, der Zeit, Raum und Gewalttätigkeiten zum Trotz überlebt, da war dieser Teil von mir, der wußte, daß er nichts Falsches getan hatte, jedenfalls ihnen gegenüber nicht. Und das war der Teil, der mich daran hinderte, das alles zu akzeptieren.
Dennoch, trotz all meiner Willenskraft, war es eine Qual, diesen Angriffen von Seiten meiner Mutter standzuhal- ten. Das Schlimme war, daß sie es nicht spielte, daß es ihr wirklich bei dem Gedanken schlecht ging, daß ihre einzige Tochter, für die sie sich immer eine allerbeste Partie vorgestellt hatte, jetzt in aller Munde war. Natürlich war ich nicht in aller Munde, bei den Verwandten schon eher, und das reichte, um meine Mutter zu quälen.
Mein Onkel Raffaele hatte sich die reizvolle Gelegenheit nicht nehmen lassen, den Namen seines verhassten Bruders mit Schmutz zu bewerfen. Und meine Mutter ging seit einem Monat nicht aus dem Haus (es war schon ein Monat vergangen seit der Schandtat!), außer es war unbedingt nötig, und wenn, dann hielt sie die Augen gesenkt, wie alle Mütter der Entehrten. Aber die Verwandten, ihre und meines Vaters Schwestern und Brüder, gönnten ihr keine Ruhe: Sie kamen zu jeder Tageszeit zu Trostbesuchen.
Diesmal an der Reihe war Tante Nunziatina mit ihren tiefgründigen Sinnsprüchen (» Co pratica u zoppu, all'annu zuppichià , wer mit einem Hinkenden Umgang hat, hinkt noch im selben Jahr selber«); Tante 'Ntunina, die den ganzen Besuch lang, jedesmal mehr als eine Stunde, nicht aus dem Weinen herauskam; Tante Milina, die sich über die Jugend insgesamt beklagte und der guten alten Zeit nachweinte, als es noch die Eltern waren, die die Ehemänner und Ehefrauen aussuchten; Tante Ciccina, die meiner Mutter zu essen brachte, als wäre sie eine
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