Ich wollte Hosen
hochziehen.
»Was? Du schließt nicht mit dem Schlüssel ab? Gut und schön, daß du eine Nutte werden willst, aber vermeide es, bei mir zu Hause damit anzufangen!«
»Entschuldige, das hab' ich nicht gemerkt ...«
Sie schloß die Tür wieder. Ich folgte ihr und drehte den Schlüssel um.
Wie sollte ich ihr erklären, daß es bei mir zu Hause nicht bloß keinen Schlüssel gibt, sondern nicht einmal eine Tür, weil mein Vater sie aufgebrochen hat, und daß da jetzt Vorhänge sind und es sein kann, daß meine Mutter reinkommt und mich nackt im Waschbottich sieht?
Das Wasser stand inzwischen schon hoch in der Wanne. Ich berührte es, es war lauwarm, ich tauchte hinein. Gleich vergaß ich Angelina und die Vorhänge und den Waschbottich und wurde ein Mensch. Ich blieb eine Viertelstunde lang im Wasser, dann kam Angelina mich rufen, und ich stand auf. Ich hatte meine Kleidung auf den Boden gelegt, damit ich die Fliesen nicht naßmachte, und gab acht bei jedem Schritt. Ich nahm den roten Bademantel und trocknete mich ganz sanft ab, ich blieb feucht. Dann nahm ich Angelinas Parfüm, und in der Psychose fing ich an, es überallhin zu spritzen. Ich hob meine Lumpen vom Boden auf und öffnete die Tür: Angelina stand schon bereit.
»Was hast du denn gemacht? Bist du ins Parfüm gefallen?« Sie verzog das Gesicht so angewidert wie vor ein paar Tagen, als mein Vater ihr die Hand gegeben hatte. Dann ging sie zur Wanne hin, schaute das Wasser an und dann mich an; ich dachte schon, das Wasser wäre grau, ich wäre vielleicht wirklich schmutzig.
»Wieso hast du das Wasser in der Wanne gelassen?« Sollte ich ihr sagen, daß bei mir zu Hause nur alle drei Wochen Wasser da ist, daß ich, wenn ich mich wasche, es nicht vergeuden darf, weil sich auch meine Mutter waschen muß, die es dann ebenfalls nicht wegschüttet, weil sie mit diesem Wasser noch den Fußboden putzt, der aus abgestoßenen kleinen Fliesen besteht, an denen man hängenbleiben und stolpern kann?
Ich entschuldigte mich wieder, sie ignorierte mich mit einem Achselzucken, und ich bat sie um das Kleid. Sie antwortete, erst müsse ich mich schminken, damit nicht ein Bröckchen Grün oder Blau ihr Kleid beflecke.
Um 18.30 Uhr war ich fertig, das Haar hochgesteckt, der Mund rot, die Lider blau, die Wimpern lang und schwarz, mit einem Kleid aus hellblauem Organza und engen Stökkelschuhen. Ich kam mir vor wie eine Prinzessin: der weite Rock, der hochstieg, wenn ich eine Pirouette drehte, und der tiefe Ausschnitt vorn und auf dem Rücken. Verglichen mit Angelina war ich aber nur eine kleine Kröte: sie in ihrem langen Kleid, schwarz, eng anliegend, vorn hochgeschlossen, aber mit einem Ausschnitt hinten, der den ganzen Rücken sehen ließ, und ein ellenlanger Seitenschlitz. Sie sah aus wie eine richtige Dame, mit einer langen Zigarette in diesem bebenden Herz mit Erdbeergeschmack. Kein triumphaler Einzug, kein bewundernder Blick für mich, wenige und dürftige Bemer-kungen. Das einzige, was mit meinen Phantasien übereinstimmte, war der Saal: riesengroß, taghell beleuchtet, mit weißen Wänden voller Bilder. Ich weiß nicht, ob die Bilder wertvoll waren, aber sie waren schön. Auf einem, das einen vergoldeten Rahmen hatte, war eine blonde Dame dargestellt, ganz nackt, auf einem Bett liegend, und die Farben waren verschwommen; ich schaute es bewundernd an, denn es war schön, wirklich schön.
Als Angelina mich so in meiner Betrachtung vertieft sah, fragte sie, was ich hätte. Ich antwortete, mir gefiele dieses Bild. »Aber das ist ein Schinken!« sagte sie zu mir. Ich war ungebildet, Angelina wußte das und zeigte vor allen ihren Freunden mit dem Finger auf mich.
Ich dachte darüber nach, was Wert eigentlich ist, wieso ein Gemälde ein Schinken ist und ein anderes ein Kunstwerk. Bei mir verursachte dieses Gemälde Gefühle, ich weiß nicht, was es war, ich hätte es nicht erklären können ... Es ist, wie wenn du den Sonnenuntergang oder das Meer anschaust: Du fühlst etwas, das du nicht erklären kannst und fragst dich nicht einmal, was es ist ... Sind der Sonnenuntergang und das Meer vielleicht Schinken? Verlieren sie vielleicht etwas von ihrem Wert, weil sie seit jeher existieren und immer existieren werden? Ihr Wert ist ihre Freiheit, die Tatsache, daß sie niemandem gehören, aber du könntest meinen, daß sie dir gehören, Hauptsache du schaust sie mit dem Herzen an. Und mit dem Herzen gehörte dieses Gemälde mir, weil es schön war. Aber vielleicht hat Angelina nie etwas
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