Ich wollte Hosen
Kranke in der Genesungszeit, und die immer sagte, mit vollem Bauch ließe sich der Schmerz besser ertragen. Nur Onkel Toto und seine Frau Mimmina vermieden es peinlich, uns zu besuchen oder auch nur in unsere Gegend zu kommen, weil das Thema wieder an Cettina hätte denken lassen, ihre sechzehnjährige Tochter, die ein paar Monate zuvor mit dem Sohn von mastru Giovanni, dem Maurer, durchgebrannt war; man hatte noch immer keine Nachricht von ihr, und die Polizei wollten sie nicht benachrichtigen, damit es nicht das ganze Dorf erfuhr, obwohl wir alle wußten, daß es keinen einzigen gab, der nicht über die Missetat tratschte. Meine Mutter war ihnen dankbar, daß sie es sich verkniffen hatten zu kommen, weil sie diese schmerzliche Gemeinsamkeit wirklich nicht hätte ertragen können, sie wollte allein sein ...
Wer sagt, geteiltes Leid sei halbes Leid? Meine Mutter litt und ertrug es nicht, daß einer daherkam und ihr erklärte, wie und warum sie leiden mußte, oder, noch schlimmer, daß einer versuchte, sie zu trösten: Sie wollte nicht getröstet werden, sie wollte nicht, daß man sie am Weinen hinderte! ...
Während dieser Besuche versuchte sie, sich gleichgültig zu verhalten, als hätte sie keine Tochter mehr, und immer wieder sagte sie, mehr zu sich selbst als zu den anderen: » A mo figlia murìa un misi fa... Ora, ia unn'haiu cchiù figlia! Meine Tochter ist vor einem Monat gestorben .. . Jetzt habe ich keine Tochter mehr!« Aber an dieser Stelle brach sie in Tränen aus und mußte die Demütigung falscher Ermutigungen, falscher Trostworte über sich ergehen lassen, und dann mußte sie einem jeden danken, obwohl sie wußte, daß, kaum hatten sie einen Fuß aus ihrer Tür gesetzt, sie sich freuen und es genießen würden, wie sie es nach dem Besuch bei Onkel Toto selbst genossen hatte.
Ich erinnere mich noch gut an ihr zufriedenes Lächeln, ihre ironischen Worte, ihre boshafte Genugtuung, wie sie nach Hause kam. Wie sollte sie jetzt ertragen, daß auf einem anderen Mund das gleiche zufriedene Lächeln lag, noch dazu, wenn sie daran dachte, daß diesmal sie die Gelegenheit für diesen Genuß bot? Wie es ertragen, daß jedes Lächeln, jeder Blick der Leute ein Akt boshaften Mitleids sein mußte? Wie es ertragen, niemals ein Wort der Entschuldigung oder der Reue zu hören aus dem Munde dieser entehrten Tochter, die trotz allem weiter aß, trank, kackte, pinkelte, also lebte? Wie das alles ertragen?
Und meine Mutter konnte es auf Dauer wirklich nicht ertragen.
Zu dem immer weniger unterdrückten und immer heftigeren und ozeanischeren Weinen kamen jetzt Schreie, Seufzer und plötzliches Zusammenbrechen hinzu, mit ebenso plötzlichem Aufstehen und wieder Niederfallen, den ganzen Tag über. Meine Mutter machte jetzt nicht einmal mehr das Essen, mit der Folge, daß zu ihren Schreien die Schreie meines Vaters hinzukamen.
Ich verfolgte das alles von hinter der Tür oder, besser gesagt, von hinter dem (aus einem alten Leintuch gemachten) Vorhang meines Zimmers, das ich nur verließ, um ins Bad zu gehen. Ich sah daher das Zusammenbrechen meiner Mutter nicht aus der Nähe, was man einerseits als Glück ansehen konnte, weil es mir ersparte, dieser Zerfleischung beizuwohnen, auf der anderen Seite erhöhte es seine Tragweite, denn meine Phantasie steigerte einen einfachen Sturz in eine Kopfverletzung, ein Verbluten oder etwas ähnlich Schreckliches.
Während eines dieser Stürze machte ich mir ernstlich Sorgen. Üblicherweise brauchte meine Mutter fünf, sechs oder höchstens sieben Sekunden, um wieder aufzustehen und weiter zu schreien; diesmal hörte ich sie hinfallen, und auf ihren Sturz folgte das Geräusch eines zerbrechenden Tellers.
Hätte ich in einem anderen Haus gelebt, hätte ich denken können, daß meine Mutter in einem Wutanfall den Teller zu Boden geworfen hatte, weil sie keine andere Möglichkeit fand, sich abzureagieren, aber ich lebte schon mehr als 15 Jahre in diesem Haus und wußte um die Tragödien, wenn einem von uns durch einen verhängnisvollen Zufall ein Glas aus der Hand rutschte. Nicht auszudenken ein Teller, wo unsere Teller doch abgezählt waren ... Nicht einmal in einem Anfall von Wahnsinn, da war ich mir sicher, hätte meine Mutter einen Teller zerbrochen. Außerdem, was besonders beunruhigend war, wollte meine Mutter nicht wieder aufstehen.
Die ersten zehn Sekunden machte ich mir keine Sorgen, weil eine solche Verzögerung noch normal sein konnte; aber als es zwanzig und dann dreißig und dann
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