Ich würde dich so gerne kuessen
aus dem Rucksack, drücke auf Play und stelle mich damit in den Türrahmen, die Linse auf Edgar gerichtet.
»Was wird das?«, fragt er schelmisch grinsend.
Ich sag nichts, halte nur die Kamera auf ihn gerichtet und sehe durch den Sucher. Sehe ihm dabei zu, wie er immer verlegener wird. Er senkt den Blick, eine leichte Röte streift seine Wangen, er zündet sich eine Zigarette an, wippt mit dem Fuß im Takt der Musik.
»Jetzt hör schon auf, ja«, sagt er und hält sich die Hand vors Gesicht.
Er winkt ab und schüttelt den Kopf. Und dann, plötzlich, kommt so ein Moment voller Ruhe, ohne Faxen, ohne etwas zu sagen, nur ein leichter Augenaufschlag, ein Stirnrunzeln, ein Biss auf die Lippen. Perfekt!
Ich schalte meine Kamera aus und setze mich wieder an den Tisch.
»Das war schön«, sage ich.
»Das war peinlich.«
»Aber nicht, wenn du das in ein paar Jahren noch mal siehst. Dann ist es einfach eine schöne Erinnerung an eine schöne Situation.«
»Du sammelst also Erinnerungen?«, fragt er.
»Ja. Das ist eine gute Beschreibung.«
»Ist schön, dass du hier bist. Normalerweise gabelt Jeffer nur Tussis auf.«
»Ich wurde nicht aufgegabelt, wie oft muss ich das noch sagen? Trotzdem, danke fürs Kompliment.«
In dem Moment kommen Kiki und Jeffer wieder und setzen sich zu uns.
»Was tun wir jetzt. Tanzen? Spielen? Gläserrücken?«, fragt Jeffer.
»Vielleicht klemmen wir uns die Weinflasche unter den Arm und gehen zur Brücke, Züge gucken«, schlägt Edgar vor.
Wir sitzen auf einem Betonvorsprung an der Brücke. Die Sonne ist untergegangen und wirft von unten noch ein restliches, unheilvolles Rot auf den Himmel, auf dem sich dicke schwarze Wolken zusammengeballt haben. Die Züge fahren in regelmäßigen Abständen mit einem monotonen Röhren vorbei und wir sehen mit etwas Fernweh hinterher. Bei Zügen denkt man immer an die vielen schönen Orte, die man gerne noch sehen möchte. Prag, Budapest, Istanbul.
Am Horizont sieht man die Hochhäuser benachbarter Bezirke und ist glücklich, nicht dort leben zu müssen. Der Fernsehturm blinkt mit seinem roten Licht zu uns herüber. Großstadtromantik. Die Brücke ist vollgesprüht mit Tags, dem kulturellen Erbe unserer Generation und dem großen Ärgernis älterer Generationen. Ich habe meine Kamera mitgenommen und filme abwechselnd die Umgebung und meine neuen Freunde. Kiki dreht sich jedes Mal weg, wenn ich die Kamera auf sie richte, aber sie lacht dabei. Jeffer wirft Steinchen in die Tiefe und raucht eine Zigarette nach der anderen. Edgar versucht, mir ein paar Mal den Arm um die Schulter zu legen, aber als ich ihn verständnislos ansehe, lässt er es endlich bleiben.
Als der Wein geleert ist, zaubert Kiki noch so einen süßen Schnaps aus ihrer Tasche und sogar kleine Gläser. Wir stoßen an.
»Na ja, schließlich wird man nur einmal neunundzwanzig!« Sie lacht laut und schüttelt ihr Haar.
DIE NÄCHSTEN TAGE vergehen wie im Rausch. Ich beschließe, die Schule vollends zu schwänzen. Wer weiß, wann meine Eltern das nächste Mal verreisen und ich noch einmal die Möglichkeit dazu bekomme.
Jeffer und ich sind hauptsächlich nachts unterwegs. Tagsüber schlafen wir und frühstücken meistens erst gegen 17 Uhr. Dann kommen immer ein paar Leute vorbei. Edgar ist jedes Mal dabei. Wir hören Musik, spielen Karten, rauchen Zigaretten, hängen auf dem Dach rum und lassen uns von der Sonne bräunen. Manchmal spielt einer Gitarre, einmal sogar im Duett mit Mundharmonika. Meistens alte Songs, gestrige Klänge. Ein bisschen überholt vielleicht, aber schön. Ich genieße das Gefühl einer großen WG , einer gleichaltrigen Ersatzfamilie. Wenn Frauen mit dabei sind, wird’s ein wenig komplizierter. Es passt ihnen nicht, dass ich bei Jeffer wohne und trotzdem nicht mit ihm rumknutsche. Sie können mich nicht in ihre Schubladen schieben, sie können nicht einmal richtig blöd zu mir sein, weil irgendwie bin ich ja doch ganz nett, hat die eine mal gesagt. Trotzdem ist da diese Mauer zwischen ihnen und mir, und zugegebenermaßen bin ich auch nicht besonders interessiert daran, sie einzureißen. Diese Mädels sind nicht nach meinem Geschmack. Sie biedern sich an und laufen in diesen schrecklich coolen Klamotten durch die Gegend, als ob das das Wichtigste im Leben wäre. Sie finden sich schön. Das sieht man an ihren Gesten und an dem gekünstelten Lachen, jedes Mal wenn ein Typ einen dummen Witz reißt. Ich mag keine Menschen, die sich schön finden. Ich mag lieber die, die
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