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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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farbenabblätternde Schäbigkeit aus, von der er annahm, daß sie schon lange vor dem Zusammenbruch der Stadt hier zu Hause gewesen war. Flechte wuchs auf dem Holzwerk, und braune Flecken breiteten sich auf den Wänden aus, wo immer sie mit Metall in Berührung kamen. Zerbrochene Milchflaschen lagen auf dem Boden verstreut, jede Scherbe war mit grünlich feuchtern Moder überzogen; zwei irgendwie an diesem Ort unpassend wirkende Mülleimer waren zur Hälfte mit Schleim gefüllt, der nur darum weniger faulig stank als der Kanal vor seiner Nissen-Hütte, weil es weniger war. Und ein zusammenhangloses Durcheinander von Knochen, deren Gelenke gelb und grün überzogen waren, deutete darauf hin, daß es einige beklagenswerte Stadtbewohner in den Tagen der Pest bis hierher und nicht weiter geschafft hatten.
    Die verwitterte Tür hielt seinen schwachen Versuchen, sie mit Gewalt zu öffnen, stand, er wandte daher seine Aufmerksamkeit dem Fenster zu, einem Viereck von anderthalb Metern im Quadrat mit verzierten Mattglasscheiben. Das Wort Arztpraxis war in großen Kursivbuchstaben unter einer verkümmerten, schnörkelverzierten Arabeske eingraviert. Es sah aus wie das Fenster eines Edwardianischen Rauchsalons.
    Dem eingesunkenen Knochengewirr so gut wie möglich ausweichend, suchte er die Gegend nach einem Backstein ab. Hielt inne, um leicht belustigt festzustellen, daß er Gefallen fand an der Vorstellung mutwilliger Zerstörung.
    Er sog die Stille der Straße in sich auf, wog sie im Geiste gegen das Klirren von Glas ab und stellte fest, daß es gut war. Als er den Stein hob, drang das entfernte Geräusch einer Turbine an sein Ohr: Arm wärmte den Tuppen vor. Das schwache Libellensurren wurde vom spröden Prasseln des fallenden Glases ausgelöscht, und als das Klirren der Scherben im Raum unten aufgehört hatte, war das Geräusch verebbt.
    Er entfernte die restlichen Glasscherben, indem er mit dem Stein am Rahmen entlangfuhr, und kletterte dann unbeholfen hinein. Die Smith & Wesson schlug schwer gegen seinen Hüftknochen. Er war stolz auf sich.
    Drinnen war es schattig und feucht, ein kleines Verlies von einem Raum, schmutzigblaue Tapete schlug schlaffe Blasen, wo die Feuchtigkeit eingedrungen war. Bänke rundum und ein Stapel von rattenzerkautem Moder auf einem dreibeinigen Tisch wiesen ihn als Wartezimmer aus.
    Er versuchte, die Tür zu öffnen, und trat ohne Schwierigkeiten in den Flur hinaus. Die Tür des Behandlungszimmers war durch ein Schild gekennzeichnet, die restlichen Türen waren durch niedrige Holzgitter und Schilder blockiert, die – in gewohnter Ungehobeltheit – besagten, daß PATIENTEN KEINEN ZUTRITT hatten.
    Ein chromgefaßter Tisch, Regale und Stühle. Der Geruch von Rattenkot, Dunkelheit in den Ecken und ein Fleck von der Form eines Foetus über der Waage. Es war dumpf und staubig und war seit mindestens einer Generation nicht betreten worden.
    Er hatte eine halbe Stunde herumgestöbert – dabei hatte er einen wohlausgerüsteten Arztkoffer gefunden, der oberflächlich besehen in gutem Zustand war, zwei Desinfektionssprühdosen, die noch unter Druck standen und funktionierten, und den fast unglaublichen Luxus einer Flasche Whisky –, als er die Turbine wieder hörte. Sie kam die Straße herunter.
    Sie wurde ausgemacht. Eine Tür schlug zu. Jemand rüttelte an der Außentür der Praxis.
    »Versuch es durch das Fenster, Arm!« rief er, in fast angenehmer Erinnerung an die Vergangenheit über eine Patientenkartei gebeugt. Der letzte Besitzer war augenscheinlich ein Homöopath gewesen.
    Schweigen folgte. Er hörte ein leises Geräusch hinter sich, drehte sich freudestrahlend um, seinen Hauptfund zu berichten, erblickte eine schattenhafte und unbeschreibliche Gestalt im Dämmerlicht. Dann folgte ein blendender Flammenblitz und ein überwältigender Schmerz in der linken Schläfe. Es hallte hämmernd in seinem Kopf. Er rang um Vernunft und gelangte nur zu einem dumpfen Gefühl der Überraschung; und es war mit Sicherheit ungerecht, daß er auch noch mit den Schatten kämpfen mußte. Sie zuckten, schnellten aus den Zimmerecken heraus und verschlangen ihn. Er taumelte aus der Vision einer Insektenschlacht, an der er als gepanzerte Stechmücke mit zwei sich drehenden Gefechtstürmen mit Luftdruckgeschützen teilnahm, an die Oberfläche. Er nahm Flammen und den Geruch von brennendem Chitin wahr.
    Er lag verkrümmt auf der Seite unter dem foetusförmigen Fleck, Schmerz hämmerte in seinem Kopf. Er spürte

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