Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
würde, außer vielleicht von der Erinnerung, unbewohnt sein und verfallen; aber er betrachtete es als ein ausgesprochenes Wagnis.
    Die Pest war abgeebbt, aber die Zentralisierung, die sie hervorgebracht hatte, blieb ihm verhaßt: Es bestand die Möglichkeit, daß einer von ihnen sich mit einer bis dahin schlummernden Mikrobe infizierte. Und auf einer tieferliegenden, persönlicheren Ebene widerstrebte es ihm, die leeren, verkommenen Straßen zu betreten, die ihn ganz sicher an das Ausmaß der Katastrophe erinnern würden.
    Er trommelte ungeduldig auf den Lukenrand. Das Kind begann zu wimmern und unterstrich damit die Notwendigkeit zu handeln. Er stieg zurück in die stählernen Eingeweide des Wagens, vorsichtig, um auf der ausgetretenen, rautenförmigen Trittfläche der Plattform nicht auszugleiten. Innen war es nicht viel wärmer. Er gab Harper und dem Zwerg, die zusammengekauert im Vorderraum saßen, müde ein Zeichen und sagte kurzangebunden: »Ihr könnt jetzt den Mund halten. Wir fahren hin.«
    Er ließ sich in den Personenraum neben das Mädchen fallen. Sie lächelte ihm zu. Sie hatte das Hemd ausgezogen und das Kind darin eingewickelt. Im Halbdunkel zusammengesunken, die Lederjacke fest um sich geschlagen, sah sie krank und zerbrechlich aus. Ein einzelner Strahl grauen Lichts, der schräg durch einen geöffneten Beobachtungsschlitz hereinfiel, glitt über ihr Gesicht. Sie summte eine Art Schlaflied, aber das Kind beachtete es nicht; als das Fahrzeug vorwärtsruckte und das Antriebsbrüllen der Maschine die Metallhülle in voller Länge erzittern ließ, verdoppelte es die Lautstärke seines Geschreis.
    »Es ist kalt«, sagte Wendover so aufmunternd er konnte. Er hatte festgestellt, daß es schwierig war, sich mit ihr über etwas zu unterhalten. Nicht, daß sie in sich gekehrt war: Der Fehler lag wahrscheinlich bei ihm selbst. Er ging davon aus, daß es ausreichte, wenn sie sich über die notwendigsten Dinge verständigen konnten. Er zog den Mantel aus und wickelte ihn um das lärmende Bündel. Sie nickte. Sie schien ein wenig einfältig.
    Der Tuppen holperte die Umgehungsstraße hinauf. Um seine bösen Ahnungen in bezug auf die Stadt zu zerstreuen, dachte er über die Unerklärbarkeit des Kindes nach: Die Tatsache, daß offensichtlich keine vorbereitende Mutation stattgefunden hatte, machte deutlich, daß hier etwas anderes als der langsame und schmerzhafte Vorgang der Selektion am Werk war (und ebenso an anderen Stellen, wenn das Mädchen recht hatte, was die Möglichkeit eines Zufalls ausschließen würde). Dann war er also gezwungen, mit der Erklärung der Mutation einem Gerücht zu folgen. Sie hatten es also doch geschafft. Er begann sich zu fragen, wie viele der anderen Mythen aus der Zerstörungsperiode auf Tatsachen basierten. Arm wandte seinen häßlichen Kopf und schrie über das Stöhnen des Turbo hinweg, daß sie ihr Ziel erreicht hatten.
    Der Wagen holperte jetzt über das zertrümmerte Backsteinpflaster der Vororte, und der Fahrtwind trug den Geruch von Ziegelstaub und alter Farbe durch den Beobachtungsschlitz zu ihm herein.
     
    *
     
    Wendover stand zwischen den klobigen viktorianischen Gebäuden im Norden der Stadt vor einer Souterrainpraxis. Außerhalb des Stadtzentrums waren die Straßen in erstaunlich gutem Zustand. Hier und da unterbrach ein verkohlter Erdspalt die Symmetrie der spießbürgerlichen Vorgärten, ein schwarzes Loch, einem seiner faulenden Zähne ähnlich: Aber hier traf man nicht auf die Zerstörung, die in den Verwaltungs- und Industrievierteln vorherrschte, wo die Arkaden und Fabrikgebäude wie ein zweites Dresden aussahen.
    Arm und Harper hatten das Treibstofflager einer Speditionsfirma ausfindig gemacht, deren Meßgeräte das Vorhandensein von etwas über tausend Gallonen Kerosin anzeigten, die in unterirdischen Vorratskammern lagerten. Sie waren mit dem Problem befaßt, etwas davon heraus und in den Tuppen zu bekommen. Sie würden auch eine Vorrichtung benötigen, um Ersatztreibstoff zu transportieren: Das Mädchen konnte keine genauen Angaben über die Lage der Mutantenkolonie machen, und sie hatten keine Veranlassung, zu glauben, daß es eine kurze Reise sein würde.
    Morag selbst stöberte dreißig Jahre zu spät in den Stoffläden herum, angeblich zum Wohle des Kindes. Wendover hatte sie ihrer Tätigkeit überlassen und war gekommen, um die weniger verderblichen Hilfsmittel seines Berufsstandes zu plündern.
    Die Räume waren schmutzig und strahlten eine

Weitere Kostenlose Bücher