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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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getrocknetes Blut auf der Kopfhaut, aber der Schädel schien in leidlicher Verfassung: Seine vorsichtig tastenden Finger machten eine dünne, längliche Wunde aus, die furchtbar wehtat, aber im Umkreis gab es keine weichen oder eingedrückten Stellen.
    Er schleppte sich zum Tisch und in einen Sessel und betrachtete unentschlossen die Flasche Whisky. Die Gestalt im Dunkel. Riesengroß, schwenkte sie ein Flammenzepter. Diese riesige, dunkle Gestalt. Und auf ihn war geschossen worden. Der Fleck an der Wand. Das Riesenhafte trinken. Whiskyschwenkende Zeptergestalt. Ich sollte die anderen warnen.
    Er verharrte einige Zeit in schmerzhafter Betäubung und versuchte, die Nebensächlichkeiten zu vergessen, dann, als er sich in der Lage fühlte, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren, sah er sich nach der schwarzen Tasche um. Sie war, ebenso wie eine der beiden Sprühdosen, verschwunden. Er schüttelte traurig den Kopf, hob die noch vorhandene Dose auf und verließ mit unsicheren Schritten die Praxis. Den Whisky ließ er zurück. Aus irgendeinem Grund wollte er fort von dem Fleck an der Wand. Er verursachte ihm Unbehagen.
     
    *
     
    Draußen stach das Licht in seinen Augen wie eine Netzhautakupunktur. Es war wieder Wind aufgekommen; er heulte durch die Straßenschlucht und pfiff um rostige, verbogene Antennen. Eine zerfressene, abblätternde Blechdose rasselte, von unheimlicher Musik begleitet, inmitten der Straße. Der Staub brannte auf seinem Gesicht. Brodelnde Kumuluswolken über den Dachfirsten und wackeligen Antennen verkündeten Regen. Eine Seite des offenstehenden Regenmantels flatterte mit zerlumpter Heftigkeit, die andere hing kraftlos, von der Pistole beschwert, an ihm herunter. Er setzte sich, so schnell er konnte, in Bewegung und versuchte im Gehen, den Mantel fester um sich zu schlagen. Er blieb nicht geschlossen. Die Wolken brachen, und Hagel prasselte auf seinen Schädel. Er schwankte immer wieder.
    Abenddämmerung zog herauf, als er sich dem Treibstofflager näherte.
    Der Wagen stand still am Straßenrand, er roch nach JP4, und das seltsame Sammelsurium von Dosen, die an seinem Panzer befestigt waren, verlieh ihm ein noch bulligeres und massigeres Aussehen. Harper lehnte auf dem Gefechtsturm, das gesunde Bein untergeschlagen, das andere herunterbaumelnd; er pfiff und grinste das Mädchen an, das unter ihm auf der Motorhaube saß und mit einem Stück buntem Stoff spielte. Dieser lebhafte mandaringelbe Fleck war das einzig Farbige in einer verblichenen Umgebung; er hob sich scharf ab von der olivgrünen Karosserie und den dunklen, umstehenden Hochhausblöcken.
    Wendover wußte, daß er gleich ohnmächtig werden würde. Er konzentrierte sich angestrengt auf den orangefarbenen Punkt, er war sein einziger Halt in einer dimensionslosen Welt. Er war ein Gespenst unter grauen Fassaden. Von Arm und dem Kind war nichts zu sehen. Harper entdeckte ihn und sagte etwas zu dem Mädchen.
    Sie winkte.
    Wendover stolperte über den Bordstein und fiel. Der Krüppel ließ sich von seinem Sitz heruntergleiten und hinkte eilig zu ihm hinüber. Morag folgte, den Stoffetzen noch in der Hand.
    »Doktor!« Harper kniete neben ihm nieder, sein Mund war zusammengepreßt.
    Wendover hustete, stammelte, dann fand er plötzlich seine Stimme wieder und konnte ihnen erzählen, was geschehen war. Er wurde aufgehoben, dann wurde ihm schwarz vor den Augen. Gleich darauf kam er wieder zu sich und sah drei Gesichter, die über ihm schwebten.
    »Steigt in den Wagen«, murmelte er.
    Aber es war bereits zu spät. Der dumpfe Knall einer großkalibrigen Pistole hallte wie ein berstender Kanonenschlag in dem Halbdunkel. Etwas prallte zischend von der Außenhaut des Tuppen ab.
    Wendover, dessen Sicht von Schmerz und Schreck getrübt war, beobachtete, wie sich Laufplanken und Feuerleitern mit fetten, grauen, madenhaften Gestalten belebten; die Mauern um sie herum gärten wie wurmzerfressene Kadaver. Nach dem ersten Schuß brach nur ein leises Rascheln die Stille des Vormarsches.
    Arm kletterte affengleich an der Seite des Wagens hinauf, und begann – halb im Geschützturm, halb außerhalb, ständig in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren –, die Luftdruckgeschütze wie Wasserwerfer einzusetzen, indem er wahllose Feuersalven in die Dunkelheit streute. Ein Höllenlärm erhob sich, als Mauerstücke in winzige Bröckchen zerbarsten. Das Kind an sich gedrückt und mit angstverzerrtem Gesicht, hatte sich Morag zwischen die Räder des Wagens geduckt.

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