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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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verärgert an, etwas zu sagen. Dann lachte er. »Ich neige immer wieder dazu, Sie zu unterschätzen«, sagte er.
    Morag flüsterte mit dem Kind, sie war sich des Gesprächs nur am Rande bewußt. Sie hatte einen Grund für ihr Verlustgefühl entdeckt. Wendover mußte seine Frage zweimal wiederholen, bis sie zu ihr durchdrang.
    »Wir gehen fort«, sagte er und hob den Arm zu einer unbestimmten Bewegung, als wolle er ihre Reiseroute andeuten. »Wir müssen das Kind mitnehmen. Vielleicht können Sie mitkommen und für das Kind sorgen?«
    Sie dachte kaum über die Frage nach, nickte nur; der Gedanke, daß sie das Kind mitnehmen und sie zurücklassen könnten, war ihr nicht gekommen. Es war eingeschlafen. Sie streichelte seine hornigen Arme, drückte leicht auf das weiche Fleisch an den Gelenken. Sie hatte natürlich schon solche Kinder gesehen, aber dieses war anders.
    »Bringen Sie es zurück zu den anderen?« fragte sie.
    Wendover runzelte die Stirn. »Wenn Sie das Dorf meinen …?«
    »Ich weiß nichts über Dörfer«, erwiderte sie, erstaunt über sein Unwissen, »aber unten im Süden gibt es eine Menge von denen. Sie verstecken sich, aber jedermann weiß es.«
    Natürlich versteckten sie sich. Sie waren inzwischen sehr vorsichtig geworden: Nur selten wurden sie erwischt, wenn sie in den Küstenorten Fische stahlen. Sie hätte nie geglaubt, daß sie einmal eins versorgen würde.
    Ein ungläubiger Ausdruck zauberte Fältchen in seine Mund- und Augenwinkel. Er glaubte ihr nicht – oder vielleicht war es so, daß er ihr Glauben schenken wollte und sich alle Mühe gab, es nicht zu tun. Sie wußte es nicht. Er war ziemlich alt.
    »Mehr von ihnen?« stieß er hervor. »Sind Sie sicher?«
    Sie nickte wieder. Er drehte sich frohlockend zu Harper um.
    »Hast du das gehört?« Harper neigte den Kopf. Er grinste breit. Er sah dadurch netter aus.
    »Ja«, sagte Wendover. »Ja, ich glaube, wir werden es zu den anderen bringen.«
    »Sie sind nicht mehr so niedlich, wenn sie größer werden«, sagte Morag nachdenklich.

 
IV
DER FRIEDHOF
     
    Es war bitterkalt. Wind peitschte über die zerstörte Autobahn, zerrte an der ausgeblichenen Vegetation, und ein beständiger Strahl feinen Staubs, der von den harten Randstreifen und den umliegenden flachen Feldern aufgewirbelt wurde, bearbeitete wie mit einem Sandgebläse den rissigen Schotterbelag. Von dem vorwiegend silbergrauen Himmel hob sich eine Kulisse von kohlschwarzen Wolkenfetzen ab, die wie Unkraut auf einem seichten Fluß trieben und sich als Rauchfahnen über zwei oder drei Meilen Länge zogen.
    Kies prasselte und schürfte gegen die Karosserie des Tuppen, der schwer auf der südwärts führenden Autobahn hockte, schweigend und vernarbt genug, um eines der zerstörten Wracks zu sein. Ein Leitungsmast, von dem ein Kabelgewirr herunterhing, erhob sich darüber und summte im Wind. Fünfhundert Meter weiter vorn schlängelte sich eine verlassene Umgehungsstraße nach links und verlor sich schnell in einer grotesken Erdfalte.
    Wendover, bis ins Innerste betäubt, blickte von seinem Platz im Geschützturm starr auf den kaum wahrnehmbaren Punkt am Horizont, der eine Stadt war. Ohne den Rauchschleier der Zivilisation war es schwer festzustellen, ob von dem Ort viel übriggeblieben war. Er trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, seine Augen brannten vom Staub und waren mit warmen Tränen gefüllt, die abkühlten, wenn sie die Wangen hinunterliefen.
    Unten diskutierten Arm und Harper in planloser Weise die Aussicht, in der Stadt Treibstoff zu finden. Sie waren seit eineinhalb Tagen unterwegs – langsam, um den Wracks auszuweichen –, und die Tanks hatten sich bedenklich geleert. Harper widersprach dem Vorschlag, aber nicht im entferntesten mit seiner gewohnten Heftigkeit, wahrscheinlich, weil er kein wirklich zwingendes Argument hatte: Sie mußten hinein, ob sie wollten oder nicht; der Turbinenmotor würde sie bis zu der Stadt bringen und nicht weiter, bevor er ächzend zum Stillstand kam. Er schien sich nur zu streiten, um den Ton seiner eigenen Stimme zu hören.
    Der Arzt hörte mit leichter, aber zunehmender Verärgerung zu, die sich gegen seine eigene Person richtete: Die Entscheidung lag bei ihm, der richtige Kurs wurde durch die Umstände bestimmt; und doch stand er unentschlossen und frierend im Wind – die Gedanken wirbelten und purzelten durch seinen Kopf, seine Augen tränten in der ätzenden Luft.
    Der Schmutzfleck am Horizont erfüllte ihn mit Unsicherheit. Er

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