Identität (German Edition)
schloss die Augen. Okay , dachte er.
Okay. Ja. Wir sind da .
Das Haus war leer.
Die Tür ging ruckelnd auf, und Mr. Itigaituk stand eine gefühlte halbe Ewigkeit da und spähte hinein. Dann drehte er sich um und sah sie an.
«Unbewohnt», sagte Mr. Itigaituk, und endlich war der Bann gebrochen. Miles und Lydia wurde bewusst, dass sie Abstand gehalten hatten, als sei Mr. Itigaituk dabei, eine Bombe zu entschärfen.
«Nichts», sagte Mr. Itigaituk kritisch und bedachte sie mit einem mild vorwurfsvollen Blick. «Schon lange kein Mensch mehr hier gewesen.»
Schon sehr lange, ergänzte Miles. Seit einem Jahr vielleicht, vielleicht auch länger. Er merkte es an dem pilzartigen Kellergeruch der Luft, als sie das Haus betraten.
Das vordere Zimmer, das in etwa die Größe und Form der Fahrerkabine eines Sattelschleppers hatte, war mit grauem Teppichboden belegt und enthielt keinerlei Möbel. An den Korkplatten, mit denen die Wände beklebt waren, hingen ein paar Zettel, und als der Wind hereinkam, flatterten sie wild wie aufgescheuchte Hühner.
«Hallo?», rief Lydia, aber ihre Stimme war schwächlich und matt. «Rachel?», sagte sie und näherte sich zögernd der offenen Tür, die in die hinteren Räume führte. «Hallo? Rachel?»
In den hinteren Zimmern war es dunkler.
Nicht stockfinster, aber halbdunkel, wie in einem Hotelzimmer, in dem die Rollos heruntergezogen sind, und der findige Mr. Itigaituk holte eine kleine Taschenlampe aus der Tasche und schaltete sie ein.
«Gottverdammt», sagte Lydia Barrie, und Miles sagte nichts.
Hier, in diesem nächsten Zimmer, standen an den Wänden Klapptische, wie aus einer Highschool-Mensa. Und es gab einiges nicht näher identifizierbare Material – ein großes sperriges Ding mit zackigen Lattenzaun-Zähnen; kleinere Wetterfahnen und windrädchenartige Stäbe; einen Aktenschrank mit entfernten Schubladen, deren Mappen über den Fußboden verstreut lagen.
Der muffige Geruch von alten Kleidern war jetzt intensiver, und Mr. Itigaituk richtete den Lichtfinger seiner Taschenlampe in ein Seitenzimmer, das, wie Miles sah, eine Küche-und-Speisekammer war. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, und leere Dosen und Schokoriegelhüllen bedeckten die Arbeitsfläche; die Hängeschränke darüber standen offen und waren größtenteils leer.
Eine Schachtel Cap’n-Crunch-Cornflakes, fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst, stand auf dem Tisch neben einem Napf und einer Dose Kondensmilch.
Mr. Itigaituk wandte sich feierlich zu Lydia, und sein Gesichtsausdruck bestätigte, was Miles sich schon die ganze Zeit gedacht hatte. Das Haus war – seit Jahren, vermutete Miles – verlassen. Sie waren erheblich mehr als etwas zu spät gekommen.
«Scheiße», sagte Lydia Barrie leise, und endlich holte sie einen Flachmann aus ihrer Handtasche und trank einen Schluck. Ihr Gesicht war müde, abgespannt, und als sie Miles die Flasche anbot, zitterte ihre Hand.
«Ich war so zuversichtlich», sagte sie, und Miles nahm die Flasche. Er spielte mit dem Gedanken, trank aber dann nicht.
«Ja», sagte Miles. «Das kann er gut. Leute an der Nase herumführen. Man könnte sagen, das ist seine Lebensaufgabe.»
Er hielt ihr den Flachmann hin, und sie nahm ihn und führte ihn wieder an die Lippen.
«Es tut mir leid», sagte Miles.
Er machte das mittlerweile schon so lange, dass es ein vertrautes Gefühl für ihn geworden war – die sich immer mehr steigernde Spannung und Erwartung, die emotionale Aufwallung. Und dann die Enttäuschung. Die Antiklimax, die auf ihre Art der Trauer ähnelte. Es war vermutlich nicht viel anders, dachte er, wenn einem das Herz brach.
Und dann räusperte sich Mr. Itigaituk, und sie schauten beide auf. Er stand ein paar Meter von ihnen entfernt, nahe dem dunklen Eingang zu den hinteren Räumen.
«Ms. Barrie», sagte er. «Das sollten Sie sich vielleicht ansehen.»
Es war ein Schlafzimmer.
Sie standen in der Tür, starrten hinein, und das war der Raum, aus dem der Geruch nach alter Erde und modrigen Textilien am intensivsten hervordrang. Es war ein enges Zimmer, in dem gerade mal eben ein Bett und ein paar Regale Platz fanden, aber es war extravagant dekoriert worden.
Dekoriert? War das der richtige Ausdruck?
Miles musste an etwas denken, was sie in Kunstgeschichte an der Ohio University durchgenommen hatten. «Art Brut» hatte der Dozent das genannt, oder «Außenseiterkunst»: Und da waren ihm die Dioramen und Plastiken
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