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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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war. Und dann gab er einen ausführlichen Kommentar auf Russisch von sich, der einen weiteren Heiterkeitsausbruch auslöste. Der Mann hielt Ryan eine seiner Karten hin, bot sie ihm an.
    «Du gefällst Natasha. Russische Mädchen mit große Titten. Sehr hübsch.»
    «Ja», sagte Ryan und nickte, «Ja, sehr hübsch», sagte er und schaute die Straße entlang – Bally’s, Flamingo, Imperial Palace, Harrah’s, Casino Royale, Venetian, Palazzo – all die Hotels und Spielkasinos, die er noch hatte besuchen wollen, all die Bankautomaten, von denen er noch Geld abheben musste, bevor er endlich zum Riviera kam, wo er unter dem Namen Tom Knott einchecken würde, ein junger Buchhalter, der in Vegas an einem Kongress teilnahm.
    «Schurik mein Name», sagte der kahlköpfige Russe und hielt ihm die Hand zum Schütteln hin.
    «Wasya», sagte der mit dem Igelhaar.
    «Pawel», sagte der mit der Kappe.
    «Ryan», sagte Ryan, und er spürte fast augenblicklich, wie sein Gesicht heiß wurde, während er den drei Männern einem nach dem anderen die Hand gab. Der elementarste Fehler überhaupt – wie ein Idiot seinen richtigen Namen zu nennen, und er war verwirrter denn je. Wie schön, Mr.   J. zu finden , dachte er. War es schlimm? Oder nicht?
    «Ryan, mein Homie», sagte Schurik. «Wir kommen mit uns, ja? Zusammen. Komm. Wir finden die beste Mädchen. Okay?»
    «Okay», sagte Ryan. Und dann, als die drei ihn durchließen, um ihm mit ihren riesigen Schnabeltassen, ihren Karten und ihren freundlichen, hoffnungsvollen Mienen zu folgen, täuschte er plötzlich links, dann rechts an und drängte sich in den Strom von Touristen auf dem Bürgersteig.
    Und flitzte dann los.
     
    Was eine Dummheit war, wie er sich später sagte.
    Er stand in der Schlange vor der Rezeption des Riviera Hotel, und das Herz hämmerte ihm noch immer in der Brust.
    Die Armen! Wie überrascht sie gewesen sein mussten, als er einfach davongerannt war. Sie hatten keinerlei Versuch unternommen, ihm zu folgen. Als er an ihre verblüfften Mienen zurückdachte, konnte er nicht glauben, dass er sie jemals für etwas anderes als harmlose ausländische Touristen hatte halten können. Ein paar betrunkene Typen auf der Suche nach einem Eingeborenen, mit dem sie fraternisieren konnten.
    Jay hatte recht: Er musste ruhiger werden.
    Dennoch war es schwierig, das einmal ausgeschüttete Adrenalin, diese straffe, nervöse Anspannung wieder loszuwerden, dachte er, als er in seinem Zimmer im Riviera – Tom Knott, zweiundzwanzig, aus Topeka, Kansas – saß. Er sah sich wieder die Hostessen an. Natasha. Ebony .
    Das hasste er am meisten an sich, an seinem alten Ich – diese Nervosität, diese unterschwellige Angst, die ständig in ihm kribbelte. Als sein zweites Jahr an der Northwestern begann, verbrachte er schon so viel Zeit damit, sich darum zu sorgen, wie wenig er arbeitete, dass ihm zum Arbeiten überhaupt keine Zeit mehr blieb.
    Vermutlich war das der Grund, warum er wieder angefangen hatte, an Pixie zu denken. Trotz allem, was passiert war, trotz des unerfreulichen Nachspiels, waren die sechs Wochen, die er mit ihr verbracht hatte, wahrscheinlich die beste Zeit seines Lebens gewesen. Sie schwänzten ziemlich regelmäßig die Schule, und er war immer rechtzeitig nach Haus gekommen, um die Briefe verschwinden zu lassen, in denen sein häufiges Fehlen und Zuspätkommen gemeldet wurden, und die Nachrichten der Anwesenheitssekretärin vom Anrufbeantworter zu löschen. So hatten seine ahnungslosen Eltern die ganze Zeit nichts Ungewöhnliches bemerkt. Ihm wurde bewusst, dass er ein ziemlich guter Schauspieler war. Ein ganz brauchbarer Lügner. Er hatte inzwischen seit einer ganzen Weile nichts Nennenswertes mehr für die Schule getan, und zum ersten Mal in seinem Leben war er in eine Prüfung gegangen, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was von ihm erwartet wurde. Es war seine Mittsemesterklausur in Chemie, und er kreuzte bei den Multiple-Choice-Fragen auf gut Glück irgendetwas an und erfand Reaktionen, die er nie im Leben zustande gebracht hätte, während ihm ein herrlicher Gedanke kam.
    Mir ist alles egal.
    Es war so, wie wenn die Fundamentalisten-Kids von ihrer «Wiedergeburt» sprachen. «Jesus ist in mein Herz gekommen und hat alle Sünde hinweggewaschen», hatte ein Mädchen namens Lynette einmal zu ihm gesagt, und in gewisser Weise war ihm genau das widerfahren. Jegliche Bürde war von ihm genommen worden, und er fühlte sich leicht und transparent, als könnte das

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