Identität (German Edition)
oder einem Betrunkenen, oder jemandem, der wie ein Tourist aussieht, in Blickkontakt. Es ist eine Regel, die man sich megaleicht merken kann: Schau sie nicht an.»
«Hmm», sagte Ryan, und Walcott klopfte ihm auf die Schulter.
«Was würdest du bloß ohne mich tun?», sagte Walcott.
«Weiß ich auch nicht», sagte Ryan. Er schaute hinunter auf seine Füße, die wie ferngesteuert den dreckigen Bürgersteig entlanggingen.
Er hätte sich Walcott nie als Freund ausgesucht, aber das Schicksal – beziehungsweise die Wohnheimverwaltung – hatte sie zusammengeführt, und so verbrachten sie während des ersten Jahres eine Unmenge Zeit miteinander, weswegen er Walcotts Stimme noch immer im Kopf hatte.
Aber jetzt war’s zu spät. Er stand da, stellte den Blickkontakt her, gaffte, und der kahlköpfige Russe hatte ihn bemerkt. Die Augen des Glatzkopfs leuchteten auf, als ob Ryan ein Schild mit seinem Namen in die Höhe hielte.
«Yo, Homie», sagte der kahle Russe, mit einem harten Akzent, aber überraschend slangy , als hätte er sich Englisch durch Anhören von Rap-Musik angeeignet. «Was geht, Mann?»
Und das war genau das, wovor Walcott ihn gewarnt hatte. Das war das Problem, wenn man aus Iowa kam, denn er war jahrelang dazu erzogen worden, höflich und freundlich zu sein, also konnte er nicht anders.
«Hallo», sagte Ryan, als die drei Männer auf ihn zukamen und ihn grinsend umringten. Ein bisschen zu dicht umringten, sodass er sich nervös verkrampfte, aber merkte, dass er dabei trotzdem seine freundliche, herzliche Midwest-Miene aufsetzte.
Der Mann mit der Igelfrisur stieß eine Salve von unverständlichen russischen Silben hervor, und dann lachten alle drei.
«Wir …», sagte der Igelköpfige und rang dann kurz nach verwendbaren Wörtern. «Wir – drei – Alkonauten! Wir –», sagte er. «Wir bringen den Frieden!»
Das fanden sie alle zum Brüllen, und Ryan lächelte unsicher. Er bewegte die Schulter, den Rucksack mit seinem schweren Laptop darin und knapp zehntausend Dollar in einer der Außentaschen. Bleib ruhig. Er stand am Rand des Bürgersteigs, und Touristen und Partygänger zogen mit glasigen, ausdruckslosen Augen an ihnen vorbei. Keine Blickkontakt-Augen.
Welcher Grad von Nervosität war jetzt wohl angebracht?, fragte er sich. Sie waren im Freien, dachte er, unter Massen von Leuten. Hier auf offener Straße konnten sie ihm nichts tun –
Andererseits erinnerte er sich an einen Film, den er mal gesehen hatte, wo ein Killer seiner Zielperson fachmännisch die große Oberschenkelader aufgeschlitzt hatte und das Opfer mitten auf einer belebten Straße verblutet war.
Die Männer hatten einen Kreis um ihn gebildet, und er spürte den dichten Verkehr, der hinter ihm über den Las Vegas Boulevard strömte. Er machte einen Schritt nach vorn, aber die drei Männer schlossen sich nur enger um ihn, als folgten sie seinem Beispiel.
«Gut, die Karten?», sagte der Glatzkopf. «Gut, die Karten, Homie?»
Plötzlich war Ryan sicher, aufgeflogen zu sein. Seine Hand schob sich automatisch in die Tasche, in der er sein Bündel Bankcards hatte. Dann ruhte sie flach auf seinem Oberschenkel, und er dachte wieder an die aufgeschlitzte Vene.
«Karten?», sagte Ryan schwächlich und versuchte, einen Blick über die Schulter zu werfen. Wenn er auf den vierspurigen Las Vegas Boulevard flitzte, wie standen die Chancen, von einem Auto erwischt zu werden? Ziemlich gut, nahm er an. Er schüttelte, zum Kahlkopf gewandt, den Kopf, als ob er nicht verstünde. «Ich … ich habe keine Karten», sagte er. «Ich weiß nicht, was Sie meinen.»
«Nicht verstehen?», sagte der Mann und lachte gutmütig überrascht, ein bisschen verwundert. «Kar-ten!», artikulierte er langsam und zeigte dabei auf Ryans Hand. «Karten!»
«Karten!», wiederholte der Igelhaarige und bleckte lächelnd seine goldüberkronten Schneidezähne. Er hielt ein knappes Dutzend Hostess-Karten in die Höhe, aufgefächert, als wären es Pokerkarten, ein Fullhouse mit Fantasie und Britt und Kamchana und Cheyenne und Natasha und Ebony.
Und dann verstand Ryan, wovon sie redeten. Er warf einen Blick auf die Karten, die er selbst auf dem Strip gesammelt hatte. «Ach so», sagte er. «Ja, na ja, ich …»
«Ja, ja!», sagte der Kahle, und die Männer lachten wieder alle laut los. «Karten! Schöne Mädchen, mein Homie!»
«Neun-und-dreißig United-States-Dollars! Unglaublich!», sagte der Mann mit der Golfkappe, der bis dahin nur Beobachter gewesen
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