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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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immer wieder mitzuteilen findet, wenn er ihr alle Tage schreibt. Wahrscheinlich
     muß er sich häufig wiederholen.
    Am achten Tag, wenn ich mich recht erinnere ein Freitag, tritt eine wichtige Veränderung ein: Marcello spricht. Als der tägliche
     Brief zu einem Aschehäufchen in der Schale geworden ist, wirft er der Signora im Spiegel einen Blick zu und sagt:
    »Was für eine Komödie! Zählt nicht auf mich, wenn Ihr sie bis in alle Ewigkeit fortsetzen wollt!«
    Am Samstagabend ist es schon nach zehn Uhr, und die Signora, die mich sonst beim Bürsten immer zur Eile antreibt, läßt zu,
     daß ich es in die Länge ziehe, statt mir zu befehlen, das Haar zu flechten. Um elf Uhr schließlich, meine Arme sind völlig
     erlahmt von der Anstrengung, die ich freilich schon beträchtlich reduziert habe, beginne ich aus eigenem Antrieb mit dem Flechten.
     Das Gesicht der Signora im Spiegel ist völlig unbewegt, und ihre Augen kann ich nicht sehen, da sie die Lider niedergeschlagen
     hat; dennoch spüre ich, daß sie unglücklich darüber ist – ebenso wie ich, wenn auch aus anderen Gründen –, daß Marcello nicht
     erscheint. Sie fragt sich vermutlich, ob er nicht kommt, weil er es satt hat, beim Verbrennen der ihr überbrachten Briefe
     zuzuschauen, oder ob der Fürst es leid ist, ihr Briefe zu schreiben, die sie doch nur vernichtet.
    Auch an den folgenden Tagen warten wir vergebens auf Marcello. Für die Signora wie für mich waren diese Tage schrecklich.
     Mal war die Signora sehr unruhig, verlor wegen der kleinsten Kleinigkeit die Nerven und ließ ihren Zorn natürlich an mir aus,
     dann wieder blieb sie niedergeschlagen in ihrem Bett liegen, vergrub den Kopf in die Kissen, weigerte sich, zu den Mahlzeiten
     zu erscheinen, und verschloß erneut ihre Tür vor Signor Peretti.
    Am Donnerstag endlich, elf Uhr abends – wir blieben jetzt jeden Abend so lange auf –, trat Marcello ein, nickte der Signora |215| an ihrem Frisiertisch flüchtig zu und setzte sich, was er sonst niemals tat, aufs Bett, streckte die Beine von sich und verkreuzte
     die Hände zwischen den Knien. So verharrte er eine gute Viertelstunde mit gesenktem Kopf und ohne die Zähne auseinanderzubringen,
     während die Signora auf ihrem Sitz unruhig hin und her rutschte und sich auf die Lippen biß.
    Aber sosehr sie sich die Lippen auch zerbiß, konnte sie sich doch nicht länger beherrschen und fragte mit zitternder Stimme:
    »Habt Ihr nichts für mich?«
    »Was soll ich haben?« sagte er und hob den Kopf.
    »Spielt nicht den Erstaunten!« rief sie wütend. »Ihr wißt sehr gut, wovon ich rede.«
    »Ja, ich weiß. Aber ich bin trotzdem erstaunt. Eine Woche lang habe ich Euch Abend für Abend einen Brief des Fürsten gebracht,
     den Ihr jedesmal verbrannt habt. Heute abend bringe ich Euch nichts, und Ihr fordert mir einen Brief ab. Einen von diesen
     Briefen, die zu verbrennen Ihr nie unterließet. Und wozu fordert Ihr ihn? Um ihn zu verbrennen! Gebt zu, daß das schon verwunderlich
     ist.«
    »Eure Verwunderung ist mir gleichgültig. Antwortet ohne Umschweife: hat Euch der Fürst einen Brief für mich übergeben?«
    »Ja.«
    »Was wartet Ihr dann noch? Gebt ihn her!«
    »Damit Ihr ihn verbrennt?«
    »Ihr habt nicht zu fragen, was ich damit mache. Ihr sollt ihn mir aushändigen, das ist alles.«
    »Das ist leider unmöglich«, sagte er mit unbeteiligter Stimme.
    »Was soll das heißen: unmöglich?«
    »Ich habe ihn selbst verbrannt.«
    »Ihr habt einen Brief verbrannt, der für mich bestimmt war?« schrie sie, völlig außer sich. »Das ist gemein!«
    »Warum? Hättet Ihr das nicht auch getan?«
    »Das ist egal, Ihr jedenfalls hattet kein Recht dazu! Das war
mein
Brief!«
    »Ganz und gar nicht‹, sagte Marcello ruhig, »es war niemandes Brief, da Ihr ihn nicht gelesen hättet. Ein Brief ist dazu da,
     gelesen zu werden. Wenn Ihr ihn verbrennt, statt ihn zu lesen, ist es kein Brief mehr, sondern nur Papier.«
    |216| »Aber es war meine Sache, zu entscheiden, ob ich ihn lese oder nicht.«
    »Wieso entscheiden? Eure Entscheidung war getroffen. Und eindeutig getroffen! Acht Tage hintereinander habt Ihr keinen Moment
     gezögert, die von mir überbrachten Briefe zu verbrennen. Und Ihr wißt genau, daß mit dem Brief, den ich Euch heute ausgehändigt
     hätte, das gleiche geschehen wäre.«
    »Doch dann hätte
ich
ihn verbrannt«, rief die Signora.
    »Das sind Kindereien, Vittoria«, sprach er geduldig. »Ich konnte diesen Brief ebensogut wie Ihr in Asche

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