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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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geröteten Augen, das in der Hand zerknüllte Taschentuch. Und er sagt anzüglich:
    »Für das ›fünfte Rad‹ seid Ihr eine Ausgeburt an Unhöflichkeit: für mich ist Flamineo eine Ausgeburt an Unterwürfigkeit und
     Giulietta eine Ausgeburt an Keuschheit. Und wenn ich dem Glauben schenken soll, was Ihr vorhin zu mir gesagt habt, bin ich
     ein Ungeheuer schlechthin. Doch bildet Euch nicht ein, Vittoria, daß Ihr der Teratologie unserer Familie entgehen könnt. Für
     mich seid Ihr von uns allen die interessanteste Spezies: ein Ungeheuer an freiwilliger Blindheit. Wenn Euch die Realität nicht
     gefällt, steckt Ihr den Kopf unter die Flügel und nehmt sie einfach nicht zur Kenntnis.«
    »Was soll das heißen?« fragt die Signora, aber wesentlich weniger hochmütig, als ich vermutet hätte.
    Offensichtlich behandelt sie ihn mit Schonung. Sie befürchtet, Schlimmes von ihm zu hören.
    »Ich meine es nicht böse. Zu Euch bin ich übrigens immer nur aus Güte boshaft, um zum Beispiel zu verhindern, daß Ihr Euch
     selbst belügt, was auf die Dauer Eure Seele in Bedrängnis bringen würde. Ich habe die für Euch bestimmten Briefe nicht verbrannt,
     Vittoria. Ich habe sie sogar numeriert von eins bis sechs, damit Ihr beim Lesen die zeitliche Reihenfolge berücksichtigen
     könnt. Hier sind sie.«
    Er zieht alle sechs aus seinem Wams hervor und wirft sie aufs Bett. Die Signora ist betroffen. Man könnte meinen, diese |219| Briefe seien ein Heiligtum: sie wagt nicht, sie anzurühren. Aber als sie sich endlich dazu durchringt, tut sie es ohne jede
     Scham und verbirgt nicht einmal ihre Hast. Sie greift den mit einer Eins gezeichneten Brief, erbricht das Siegel mit zitternden
     Fingern und versenkt sich gierig in die Lektüre.
    »Ihr seid ja jetzt beschäftigt«, sagt Marcello, »so daß ich gehen kann. Ich muß mich mit jemandem treffen. In einer Stunde
     bin ich wieder zurück.«
    Sie antwortet nicht. Sie hat ihn nicht einmal gehört, und auch seinen Abgang nimmt sie nicht wahr.
    »Caterina«, sagt sie, ohne den Kopf zu heben, »rück mir einen Leuchter heran.«
    Es kommt ihr nicht einmal der Gedanke, daß sie es zum Lesen bequemer hätte, wenn sie an ihrem Frisiertisch säße, statt auf
     dem Bett zu liegen. Das Lesen dieser Briefe wird lange dauern, sehr lange sogar, denn vermutlich werden sie ein zweites Mal
     gelesen, und so rücke ich ein niedriges Tischchen an Vittorias Bett und stelle einen Leuchter vom Frisiertisch darauf.
    Ich setze mich auf einen Schemel in die Ecke und lehne mich mit dem Rücken an den Wandbehang. Ich betrachte die Signora und
     beneide sie. Ein Mann, der sich die Mühe macht, täglich an sie zu schreiben, der muß sie wohl sehr lieben. Ich wüßte niemanden,
     der sich so um meine kleine Person bemühen würde. Aber natürlich bin ich viel leichter zugänglich. Kann man sich einen Papst
     oder einen Kardinal vorstellen, der vierzig Soldaten zum Schutze meiner Tugend mobilisieren würde?
    Der Fürst würde den Kopf verlieren, wenn er sie so auf dem Bett liegen sähe, in ihrem Nachtgewand, das Arme, Hals und zur
     Hälfte auch ihre Brüste unbedeckt läßt. Letztere übrigens sind, wie ich mit einem flüchtigen Blick feststellen kann, zwar
     genauso fest, aber nicht so groß wie meine. Das sage ich der Gerechtigkeit halber, nicht um an ihr herumzunörgeln – die Signora
     ist mir hundertfach überlegen. Sie ist ganz einfach die Beste und Schönste. Zumal in diesem Moment, da sie wieder und wieder
     ihre Briefe liest, eingehüllt in ihr langes Haar (zwei Stunden Bürsten für mich morgen!), das schöne Gesicht vor Erregung
     rosig überhaucht; auf den Wangen liegt der Schatten ihrer langen Wimpern, stoßweise hebt und senkt sich ihre Brust.
    |220| Die Zeit vergeht. So hinreißend das alles sein mag, langsam werde ich müde. Doch ich kann die Signora nicht unterbrechen und
     sie bitten, mich für heute zu entlassen: sie sieht so andächtig aus. Was hätte ich auch davon? Marcello hat gesagt, er müsse
     jemanden treffen. Also ist er nicht in seinem Zimmer.
    Bei Marcello geht es nicht mit rechten Dingen zu. Wenn man von ihm spricht oder auch nur an ihn denkt, taucht er auf, und
     im Schlafzimmer der Signora ohne jemals anzuklopfen. Vielleicht weil sie Zwillinge sind, empfinden die zwei keine Scham, sich
     nackt voreinander zu zeigen. Dagegen die Schamhaftigkeit in meiner Familie in Grottammare! Was für eine Aufregung um das kleinste
     bißchen nackte Haut! Und was für akrobatische

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