Idol
– »Und was habt Ihr seit der Abreise der Sorghini nach Amalfi gesehen?« –
»Nichts«, sagt sie beinahe bedauernd, »die Vorhänge blieben geschlossen.«
Wieder einmal muß ich erleben, wie sich ein Zeuge, der zum |257| Hauptzeugen werden könnte, in Nichts auflöst! Die Einbildungskraft kann natürlich die Realität ersetzen. Die Frau kann Marcello
nackt sehen, selbst wenn die Geranien ihn zur Hälfte verdecken. Und ich könnte mir einbilden, Vittoria mit ihrem langen Haar
zu sehen, wie sie sich auf dem weißen Bette wälzt, ihr schöner Körper umfangen von den Armen eines »gewissen edlen Herrn«.
Aber was beweist das schon?
Nach diesen beiden Episteln erhielten Gouverneur Portici und ich ein gutes Hundert weiterer Briefe; alle waren anonym, alle
ergingen sich in Anklagen und Beschimpfungen gegen Vittoria Peretti, ihren Bruder, ihre Mutter, ihre Zofe und einen »ge wissen edlen Herrn«, den sie namentlich nicht nannten. Trotz ihrer Anonymität waren die Schreiber nicht gerade mutig. Fünf oder
sechs Briefe an den Gouverneur beschuldigten mich der Inkompetenz, äußerten Kritik an meiner Untersuchung und Unwillen darüber,
daß sie noch zu keinem Ergebnis geführt hat. Mehrmals lasen wir diese Briefe durch, in der Hoffnung, auch nur ein einziges
ernst zu nehmendes Indiz darin zu entdecken; und weil wir nichts fanden, verbrannten wir sie.
Eine Woche später teilt mir mein Adjutant Alfaro mit, am Sonnabend nach der Ermordung Perettis habe man einen entlassenen
Soldaten festgenommen, der in einer Taverne seinen Trinkkumpan erdolcht hatte. Seine Schuld stehe einwandfrei fest, da der
Mord vor Zeugen geschehen sei. Der Mann sei dem Richter überstellt und binnen zehn Minuten zum Tod durch den Strang verurteilt
worden. Er solle in drei Tagen gehängt werden und habe um eine Unterredung mit mir ersucht, da er mir ein Geständnis ablegen
wolle.
»Ein Geständnis?« frage ich. »Was für ein Geständnis? Wo er doch für schuldig erkannt worden ist!«
»Er hat wohl noch ein anderes Verbrechen begangen und will vor dem Sterben sein Gewissen erleichtern.«
»Soll er doch sein Gewissen durch die Beichte erleichtern! Ich kann ihn nicht zweimal hängen.«
Dieses Gespräch findet vor dem Tor zur Corte statt, mein Reitknecht hält schon mein Pferd, weil ich gleich nach Hause reiten
will. Ich bin sehr hungrig und habe es eilig, zu Tisch zu kommen. Schon im Sattel, drehe ich mich noch einmal zu Alfaro um
und frage aus reiner Routine:
»Wie heißt denn der Mann mit den Gewissensbissen?«
|258| »Barca.«
»Barca? Hast du Barca gesagt? Gott im Himmel! Das ändert alles. Führ ihn vor!«
»Jetzt gleich, Signor Bargello?«
»Jetzt gleich!«
Ich sitze ab, werfe dem Reitknecht die Zügel zu und kehre in fliegender Hast ins Gebäude der Corte zurück.
»Schnell, Alfaro, beeil dich!«
Der trödelt nämlich immer so sehr! Als Barca endlich, an Händen und Füßen gefesselt, vor mir erscheint, brauche ich nicht
länger zu zweifeln. Er sieht genauso aus, wie ihn Filippo beschrieben hat: groß, brünett, vierschrötig, bis zu den Augen behaart,
und er wirkt sehr höflich. Eine Bestie mit der Stimme eines Lamms.
»Du willst mich sprechen?«
»Ja, bitte, Signor Bargello.«
»Was hast du mir zu sagen?«
»Daß ich einen weiteren Mord zu beichten habe und Euch um eine Gunst bitten möchte.«
»Eine Gunst? Ziehst du die Galeere dem Galgen vor?«
»Oh, nein, Signor Bargello, ich bin Soldat. Wenn Schluß sein muß, dann lieber schnell.«
»Da schau mal einer diesen Mörder an!«
Barca richtet sich auf, holt tief Luft und sagt mit einer gewissen Feierlichkeit:
»Ich habe Francesco Peretti getötet.«
»Du allein?«
»Nein, Signor Bargello, zusammen mit meinem guten Freund Alberto Machione. Aber ich war es, der auf Signor Peretti geschossen
und ihm dann mit dem Dolch den Rest gegeben hat.«
»Du gibst dir große Mühe, deinen guten Freund Alberto Machione reinzuwaschen. Wo ist er denn?«
»Ich habe ihn getötet.«
»Du hast ihn getötet?«
»Ja, Signor Bargello. In der Taverne.«
»Also war er dir doch nicht ein so guter Freund?«
»Oh, doch«, ruft er, und die Augen stehen ihm plötzlich voller Tränen. »Sein Tod war eine Art Unfall.«
»Berichte!«
»Also gut. Wir tranken einen in der Taverne, nachdem wir |259| das Ding mit Peretti gedreht hatten. Dabei gerieten wir wegen der Beute in Streit. Alberto verlangte die Hälfte der Piaster
und außerdem noch das Wams des Toten. Dabei
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