Idol
Personen als eine schreiende Ungerechtigkeit empfunden
wird?«
»Ich befürchte es. Aber in der Umgebung Seiner Heiligkeit gibt es einige, die meinen …«
Er seufzt und fährt mühsam fort:
»… die meinen, daß eine Ungerechtigkeit besser sei als Unruhe.«
»Nur daß eine Ungerechtigkeit häufig Unruhe nach sich zieht«, entgegne ich heftig.
»Woran denkt Ihr, Della Pace?«
»An eine Rebellion hochgestellter Personen oder vielmehr einer hochgestellten Person.«
»Diese Möglichkeit habe ich erwogen«, meint Portici, »und ich habe sie im Vatikan zur Sprache gebracht. Sie sei nicht zu befürchten,
hat man mir geantwortet, denn alle Vorkehrungen seien getroffen, einer Rebellion zuvorzukommen.«
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|264| KAPITEL IX
Monsignore Rossellino (il bello muto):
Obwohl Seine Eminenz Kardinal Montalto spät zu Bett geht und manchmal nachts noch lange liest, steht er unwandelbar jeden
Morgen um halb sechs auf, weil er meint, ein späteres Erwachen verleite einen Mönch zu Faulheit und Sinnenlust. Dies war einer
der Gründe, weswegen die Franziskaner in Venedig, deren bequemes Leben er – als ihr Bischof – reformieren wollte, ihn zu hassen
begannen und so lange gegen ihn intrigierten, bis ihn der Senat aus der Repubblica Serenissima vertrieb.
Seine Eminenz erlaubt mir jedoch, eine Viertelstunde später als er selbst aufzustehen, da er – trotz der Handreichungen seines
Kammerdieners – wegen seiner Gebrechen mehr Zeit zum Anziehen braucht. Gleichwohl erwartet er mich Schlag sechs Uhr in dem
kleinen Speisezimmer des Palazzo, wo es sehr gemütlich sein könnte, wenn der Kardinal nur zustimmte, daß im Winter Feuer gemacht
würde. Aber wie in allen anderen Fragen ist er auch in diesem Punkt unnachgiebig. »Man könnte versucht sein, die Mahlzeit
in die Länge zu ziehen, wenn einem nicht so kalt wäre.« Dagegen brennt in dem Arbeitszimmer, das wir teilen, ein wenn auch
kleines Feuer, schon damit seine vom Rheumatismus gekrümmten Finger die Feder halten können. Es ist nicht Geiz, sondern Strenge.
Seine Eminenz besitzt herrliche Wälder, so daß wir über einen wohlgefüllten Holzschuppen verfügen und wohl zehn Jahre, ohne
zu knausern, heizen könnten. Unsere Mahlzeit bei Tagesanbruch ist frugal. Denke ich an das Frühstück bei meinen Aufenthalten
im Hause der Contessa zurück, so kann ich mich nachträglich nur meiner Eßlust schämen und mich glücklich schätzen, keine Gelegenheit
mehr zu haben, neuerlich dieser Sünde zu erliegen, die bei einem Mann unausweichlich andere, wesentlich schwerere auf den
Plan ruft.
Sobald wir beide Punkt sechs Uhr das Speisezimmer betreten, bringt Schwester Maria-Teresa, alt und unwahrscheinlich |265| runzlig, jedem von uns eine Schale heiße Milch und einige Scheiben Roggenbrot. Das ist alles. Sonntags fügt sie allerdings
noch zwei kleine Schafkäse hinzu, jedoch nicht in der Fastenzeit, die wir sehr streng einzuhalten pflegen.
Während des Frühstücks macht Seine Eminenz den Mund nur auf, um das Brot zu kauen, das er mit Rücksicht auf seine schlechten
Zähne vorher in Milch taucht. Im Vatikan mokiert man sich über diese spartanische Mahlzeit: »Montalto ißt nicht. Er füllt
sich den Bauch wie der Ochs vorm Pflügen.«
Diese Äußerung verrät zwar wenig Nächstenliebe, ist aber zutreffend. Als ich Seine Eminenz eines Tages fragte, warum er abends
nur eine Kleinigkeit zu sich nehme, wurde mir zur Antwort: »Was brauche ich so viel zu essen? Nachts arbeite ich doch nicht.«
Vor dem Aufstehen spricht der Kardinal ein kurzes Gebet, und nach dem Frühstück verrichtet er eine zweite, ebenfalls kurze
Andacht in seiner Hauskapelle. Ich hörte ihn einmal zu einem jungen Priester, der endlos seine Paternoster und Ave-Maria wiederholte,
sagen: »Ihr müßt nicht hundertmal das gleiche wiederholen. Gott ist nicht schwer von Begriff!«
Er betet im Stehen, da er wegen seiner Krücken nicht niederknien kann. Anschließend begibt er sich in sein Amtszimmer. Mit
meiner und des Kammerdieners Hilfe nimmt er Platz oder läßt sich vielmehr in den Sessel fallen. Dabei verändert er sich völlig:
lebhaft, voller Energie und Freude beginnt er sein Tagewerk.
Ich bewundere, mit welchem Schwung er an seine tägliche Arbeit geht, und ich habe ihn nur einmal die Fassung verlieren sehen:
an dem Tag, da Filippo ihm die Nachricht von der Ermordung Francesco Perettis überbrachte.
Mit einem Schlag malte sich in den sonst so entschlossenen
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