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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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zu bringen. Caterina dagegen, mit wogender Brust, halb geöffneten Lippen, den Kopf unruhig hin
     und her werfend, schien in einem Höllenfeuer zu schmoren.
    Die mit Nägeln verzierte Tür drehte sich leicht in den Angeln, und Marcello trat ein, was uns nicht im mindesten überraschte.
     Er war mit einer langen tizianroten Robe bekleidet, die durch einen goldenen Gürtel, an dem sein Dolch hing, zusammengehalten
     wurde. Er verriegelte die Tür hinter sich, zog den Schlüssel ab, zeigte ihn uns mit einer theatralischen Geste, schritt zur
     Fenstertür und warf ihn durch das Gitter in den Garten. Danach wandte er sich zur Mitte des Zimmers, umschritt langsam den
     flachen Zedernholztisch, schaute uns der Reihe nach an und sagte mit ironisch verzogenen Lippen:
    »Jetzt seid ihr in meiner Gewalt, meine Täubchen, und könnt mir nicht entkommen.«
    |33| Da erhob ich mich von meinem Diwan, auf dem ich bis dahin bescheiden sitzen geblieben war, ging beherzt auf ihn zu und sagte:
    »Du bist selbst ein Gefangener, Marcello, denn du hast den Schlüssel weggeworfen.«
    »Daran erkenne ich deinen gesunden Menschenverstand, Giulietta«, entgegnete er lächelnd. »Man könnte sogar meinen, ich sei
     euer Gefangener, so wie ihr meine Gefangenen seid. Aber das ist falsch. Ich bin frei, und hier ist das Werkzeug meiner Freiheit!«
     Er zog seinen Dolch.
    Er drehte und wendete den Dolch in seinen Händen, um mit der glänzenden Klinge einen Sonnenstrahl einzufangen, den er abwechselnd
     auf Vittoria, Caterina und mich zu richten versuchte.
    »Willst du damit sagen, Marcello, daß du dir das Leben nehmen willst?«
    »Natürlich. Aber zuvor will ich euch das Leben nehmen.«
    »Und warum?«
    »Warum leben«, entgegnete Marcello, »wenn wir doch alle dem Tod bestimmt sind?«
    Vittoria riß ihre blauen Augen weit auf, fegte ihr Haar beiseite (auf die Gefahr hin, ihre Brüste zu zeigen, aber war das
     nicht Absicht?), stützte sich auf einen Ellenbogen und fragte:
    »Warum soll ich sterben, Marcello?«
    »Das Leben«, antwortete er mit leiser, müder Stimme, »ist ein grausames, hinterhältiges Spiel. Frauen sind nichts als Fallen
     der Fleischeslust. Wer in ihre Fangarme gerät, fällt und stirbt. Lieber will ich mich töten, und euch mit.«
    Ich war wütend, weil Vittoria durch ihren Einwurf die Aufmerksamkeit Marcellos auf sich gelenkt hatte. Begierig, sie aufs
     neue zu gewinnen, und um ihm gleichzeitig meine Unterwerfung zu zeigen, trat ich zu ihm, legte meine Hände auf seine Brust
     und sprach sanft:
    »Es geschehe nach deinem Willen, Marcello. Töte uns, wenn es sein muß, doch sag mir wenigstens, mit wem du beginnen willst.«
    »Mit dir, Giulietta, du bist so ein braves Mädchen«, sagte er lächelnd.
    In diesem Augenblick erwachte ich. Als ich begriff, wo ich war und wer ich war, kam mir – ich weiß nicht warum – meine |34| verstorbene Familie in den Sinn, und ich spürte die Leere meines Lebens mit solcher Grausamkeit, daß ich zu schluchzen begann.
    Schließlich ermüdeten mich die Tränen. Ich trocknete mir die Augen, schlug Feuer, zündete meine Kerze an, erhob mich und betrachtete
     mich in einem kleinen venezianischen Spiegel, der verkleinerten Nachbildung des Spiegels aus meinem Traum. Ich durchforschte
     meine Gesichtszüge, als könne ich daraus mir bisher unbekannte Dinge über mich erfahren. Eigenartigerweise schien ich nicht
     mehr dieselbe zu sein. Ob zum Guten oder Schlechten verändert, hätte ich nicht zu sagen gewußt.
    Ich spürte Unbehagen. Wie erklärte es sich, daß mein Traum Marcello derart überschätzte, daß er eine Art Held wurde, er, den
     ich ungeachtet meiner alten Zuneigung für einen skrupellosen, faulen, gewalttätigen und verderbten jungen Mann hielt? Wie
     erklärte es sich, daß in dem gleichen Traum Vittoria ungerechterweise zu einem falschen Ungeheuer wurde und obendrein für
     ihren Bruder eine inzestuöse Neigung verspürte, an der sie gewiß unschuldig war?
    Ich ging wieder zu meinem Lager, blies die Kerze aus, hielt im Dunkeln einen langen Moment die Augen weit geöffnet, ohne Schlaf
     zu suchen, da ich sehr wohl wußte, daß ich ihn ohnehin nicht finden würde. Und obgleich ich sicher nicht verantwortlich war
     für die Phantastereien meines Traums, fühlte ich doch Gewissensbisse, weil ich im Schlaf so böse und negative Gefühle für
     Vittoria gehegt hatte. Gleichzeitig spürte ich in mir Zweifel über mich aufsteigen. War ich denn wirklich diese gute, diese
     »vernünftige«

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