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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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weiß.
    Auch im Palazzo Sforza wirkten der Geleitbrief und das päpstliche Siegel Wunder, doch es brauchte seine Zeit, um den Majordomus
     zu holen, der als einziger den Befehl zum Herunterlassen der Zugbrücke erteilen durfte. Es war deutlich zu sehen, |411| daß hier ein Admiral gewohnt hatte; die Anlage war eher eine Festung denn ein Palazzo: eine lange, schmucklose Fassade mit
     wenigen, dicht vergitterten kleinen Fenstern, an beiden Enden von großen viereckigen Türmen flankiert. Das Ganze war von einem
     breiten, tiefen Wassergraben umgeben, der aus dem See gespeist wurde.
    Nachdem wir eingelassen worden waren, erklärte mir der Majordomus, ich müsse mich gedulden, denn das Fürstenpaar sei in einer
     der Galeassen unterwegs, um Freunde auf Schloß Sirmione zu besuchen, und komme erst am späten Nachmittag zurück. Und da ich
     mich wunderte, wie man in dieser Watte mit einer Sichtweite von höchstens einer Viertelmeile Kurs halten könne, sagte er mir,
     die Schiffer des Sees würden sich nach der Sonne orientieren, die sich durch den Nebel erahnen lasse, selbst wenn sie ihn
     nicht zu durchdringen vermöge.
    Wie schon erwähnt, flankierten zwei große viereckige Türme das Gebäude; den Grundriß der Anlage begriff ich jedoch erst, als
     ich dem Majordomus in den Hof folgte. An den beiden Enden des Haupttrakts schlossen sich, im rechten Winkel zu den Türmen,
     zwei Seitenflügel an, die bis zum See hinunterreichten. Ein dritter Flügel – ich weiß nicht, ob diese Bezeichnung zutrifft,
     denn er ging seltsamerweise von der Gebäudemitte ab – zog sich parallel zu den beiden anderen bis zum Ufer und teilte den
     Hof in zwei Hälften. An seiner Giebelfassade befand sich in Höhe des ersten Stockwerks eine Terrasse. Diese Terrasse nebst
     den beiden Fenstertüren, die zu ihr führten, und den drei Rundbögen, die sie im Erdgeschoß stützten, waren das einzig wirklich
     Elegante und Prunkvolle an diesem insgesamt recht ungeschlachten Bauwerk.
    Die drei Rundbögen erhoben sich auf einem Vorhof, von dem aus man über ein paar Stufen zu einem kleinen Hafen gelangte. Dort
     ankerte eine Galeasse des Typs, wie er sich in der Schlacht von Lepanto gegen die Türken bewährt hatte, nur war sie sehr viel
     kleiner. Sie hatte eine Ruderkammer, die aber – ganz anders als sonst üblich – unter Deck lag, so daß man ungehindert mit
     den Segeln manövrieren konnte.
    Meine Frage, ob die Galeasse am Ort gebaut oder aus Venedig herbeigeschafft worden sei, beantwortete der Majordomus so langstilig
     und konfus, daß ich noch müder wurde, als ich von der langen Reise ohnehin schon war. Hinzu kam, daß mich |412| der Nebel über dem See mit seinem faden Geruch benommen machte, so daß mir plötzlich übel wurde. Ich setzte mich auf die Stufen
     und verlor das Bewußtsein.
    Allerdings nicht völlig, denn ich spürte, wie jemand – ich erkannte an seinem Wohlgeruch Isacco – meine Halskrause lockerte,
     mir leicht auf die Wangen klopfte und mir gezuckerten Wein einflößte, den ich erst nur mit Mühe trinken konnte, dann aber
     gierig hinunterschluckte. Meine Lider zuckten, ich konnte sie nur noch nicht ganz aufmachen, da hörte ich Isacco mit seiner
     sonoren Baßstimme sagen, vermutlich zu einem meiner Söhne:
    »Sorg dich nicht. Er ist robust und wird hundert Jahre leben!«
    Allmählich konnte ich wieder klarer sehen, und das erste, was ich erblickte, waren zu meiner Linken ein halbes Dutzend großer
     Magnolien entlang dem Ufer. Sie wirkten nicht wie Bäume, sondern wie riesige runde Buketts aus zartrosa schimmernden weißen
     Blüten. Beim Betreten des Hofes hätte ich sie eigentlich nicht übersehen dürfen, aber mein Blick war über sie hingeglitten,
     ohne sie wirklich wahrzunehmen, während nun, in meinem Schwächezustand, mein Geist – ebenso verschwommen wie der neblige See
     – sich auf sie konzentrierte und aus ihrem Anblick unendliche Freude schöpfte.
    »Was schaust du so, Giuseppe?« fragte Isacco.
    »Die Magnolien!«
    »Ach so, die Magnolien«, sagte er erstaunt. »Die gibt’s überall am Seeufer.«
    Das Sprechen fiel mir sehr schwer. Wie sollte ich ihm also erklären, daß ich mich vor zwei Minuten noch dem Tode nahe gefühlt
     hatte, nun aber – beim Anblick der herrlichen Buketts – ins Leben zurückkehrte?
    »Die ganze Schönheit der Schöpfung liegt darin«, sagte ich mühsam.
    »Oho, Giuseppe, du bist ja ein richtiger Dichter!« lachte Isacco.
    Und mit einer Mischung aus Zuneigung und

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