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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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des
     Fürsten Orsini befanden, Signora.«
    »Laßt sie holen, Baldoni«, befahl die Herzogin.
    Trotz ihres Gewichts schaffte ich die Kassette eigenhändig herbei und übergab den Schlüssel der Herzogin. Nicht ohne innere
     Bewegung öffnete sie die Kassette, nahm die von ihrem verstorbenen Gatten stammenden Kleinodien Stück für Stück heraus und
     reihte sie auf der Marmorplatte des Tisches auf.
    |438| »Wie! Ist das alles?« rief der Graf und runzelte die Stirn. »Das ist aber sehr wenig! Ich habe mit eigenen Augen die Kleinodiensammlung
     meines Cousins gesehen, die neben denen von Papst Gregor XIII. und Kardinal di Medici eine der schönsten in ganz Rom war.«
    »Vor seiner Abreise aus Rom«, sagte ich, »hat der Fürst die Sammlung verpfändet, um seine Schulden zu bezahlen. Was Ihr hier
     seht, sind nur seine persönlichen Schmuckstücke.«
    »Der Fürst hat seine Kleinodiensammlung versetzt?« bemerkte der Graf bissig. »Das ist eine Neuigkeit, die ich heute zum ersten
     Mal höre! Und wer kann das bezeugen?«
    »Frau Herzogin«, sagte ich, ohne den Grafen anzusehen, »die Sammlung des Fürsten ist in Anwesenheit des Notars Frasconi aus
     Rom und zweier Zeugen verpfändet worden. Darüber wurde eine Urkunde ausgefertigt und unterzeichnet, von der der Notar ein
     Duplikat einbehalten hat.«
    »Sie haben es gehört, Signore«, sagte die Herzogin.
    »Ich habe es gehört, in der Tat«, erwiderte der Graf. »Doch was ich gehört habe, steht in krassem Gegensatz zu dem, was ich
     sehe. Zum Beispiel tragt Ihr ein wunderschönes Brustkreuz, das ebenfalls auf diesen Tisch hier gehört, denn Ihr habt es vom
     Fürsten.«
    »Dieses Kreuz ist mein Eigentum«, rief die Herzogin unwillig. »Es ist ein Geschenk meines Onkels, Papst Sixtus’ V.«
    »Und der Beweis?«
    »Mein Wort! Falls Euch das nicht genügt, der Brief, der dem Geschenk beigefügt war.«
    »Außerdem gehören alle Schmuckstücke, die der Fürst zu seinen Lebzeiten seiner Gemahlin geschenkt hat, zu ihrem Erbteil. So
     hat er es schwarz auf weiß in seinem Testament verfügt«, sagte Marcello.
    »Es gibt also ein Testament!« rief der Graf, und diesmal war seine Betroffenheit nicht gespielt.
    Aber sie dauerte nur einen Moment, dann trug er wieder die Maske frecher Höflichkeit zur Schau, die die Herzogin von Beginn
     der Unterredung an so aufbrachte.
    »Als Bevollmächtigter des Fürsten Virginio fordere ich Euch auf, Signora, mir dieses Testament zu zeigen«, sagte er.
    »Ich sehe dazu keine Veranlassung«, sagte Signor Marcello, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Dem Fürsten wird eine |439| Kopie zugesandt, sobald der Podestà das Testament für gültig erklärt hat.«
    Aber auch in diesem Punkt war die Herzogin zu Recht oder zu Unrecht – ich glaube, zu Unrecht – anderer Meinung als ihr Bruder.
     Vermutlich wollte sie die Achtung vor dem Sohn ihres verstorbenen Gatten unter Beweis stellen. Worin sie zu viele Skrupel
     hatte, wie ich fand, zumal Fürst Virginio deren so wenige besaß, sonst hätte er seine Interessen nicht diesem traurigen Helden
     anvertraut, der da vor uns bramarbasierte. Auch ich hätte diesem Frechling mit Freuden meine Klinge zwei Zoll tief ins Gedärm
     gestoßen, wenn meine gute Herrin es mir nur erlaubt hätte.
    »Holt das Testament, Baldoni«, bat sie.
    Ich verließ den Saal, aber nicht durch die rechte Tür, sondern durch die linke, um den Soldaten im Nebenzimmer zu befehlen,
     sie sollten mit gezogenem Degen bei uns eindringen, sobald ich in die Hände klatschen würde. Die Adligen unter ihnen waren
     außer mit dem Degen noch mit kleinen Radschloßarkebusen bewaffnet. Ihre Augen funkelten zornig, als ich ihnen sagte, der Graf
     sei unverschämt und drohe der Herzogin. Alle diese Untergebenen waren ihr sehr zugetan, und im Notfall konnte sie fest auf
     sie zählen. Sie bewunderten sie ob ihrer Schönheit und liebten sie ob ihrer Herzensgüte. Ich teilte ihre Gefühle, allerdings
     mit einem kleinen Unterschied: mit allem gebührenden Respekt wage ich zu behaupten, daß die Herzogin zwei kleine Fehler hatte
     – sie war naiv und zugleich starrköpfig. Naiv, weil sie mitunter recht unkluge Entscheidungen traf, und starrköpfig, weil
     sie allen Einwänden zum Trotz daran festhielt.
    Dafür lieferte sie mir ein schlagendes Beispiel, als ich mit dem Testament in den Saal zurückkehrte. Ich übergab es ihr und
     flüsterte ihr beschwörend zu: »Frau Herzogin, lest es selbst vor und hütet Euch, es diesem Manne

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