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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Als sie das erste Mal auf diese Art bekundete, daß sie meine Anwesenheit zur Kenntnis nahm,
     war ich so überrascht, als hätte die Madonna auf dem Bild zur Rechten des Kardinals vom Jesuskind aufgeschaut und mir für
     einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Ich wage zu hoffen, daß niemand an diesem Vergleich Anstoß nimmt. Welcher
     Maler würde nicht davon träumen, eine Maria mit dem Kinde nach dem Modell von Vittoria zu malen, sofern sie, die selbst nie
     empfangen hat, sich zu einer für sie so grausamen Haltung bereitfinden könnte?
    Nachdem Vittoria in einem Armlehnstuhl ihrem Onkel gegenüber Platz genommen hatte, begann die Unterhaltung jedesmal damit,
     daß Seine Eminenz sich eingehend nach dem körperlichen und seelischen Befinden der Bewohner des Palazzo Rusticucci erkundigte.
     Würde Flamineo sich entschließen, endlich seiner wahren Berufung zu folgen? Und war Marcello jetzt bereit zu arbeiten? Warum
     heiratete er nicht die reiche Witwe, in die er vernarrt ist, statt schamlos vor aller Augen in Sünde mit ihr zu leben? Wäre
     Francesco nicht gut beraten,
il mancino
auf den Hof seines Vaters bei Grottammare zu schicken, statt zu dulden, daß er als Parasit im Palazzo Rusticucci lebte und
     die meiste Zeit in der Taverne mit dem gotteslästerlichen Namen verbrachte, wo er Geld von den Dirnen |70| nahm, die er protegierte? Was machte das Magengeschwür der armen Camilla? Sollte sie ihre Mahlzeiten nicht besser auf ihrem
     Zimmer einnehmen, um Tarquinias ewigen Sticheleien zu entgehen? Konnte nicht Vittoria mit ihrer ganzen Autorität auf ihre
     Mutter einwirken, damit der Kampf der beiden alten Damen aufhörte? Giulietta war jetzt fünfundzwanzig; warum verheiratete
     man sie nicht, da sie offenbar nicht fromm genug war, Nonne zu werden? Francesco wurde sichtlich dicker; war es für ihn nicht
     an der Zeit, das Fechten und Reiten wieder aufzunehmen? Der Kardinal hatte auch gehört, daß der Wächter des Palazzo Rusticucci
     ein Trinker war; eine schlechte Gewohnheit bei jedem Mann, gewiß, aber bei einem Wächter noch weit schlimmer, denn der müsse
     ja Augen und Ohren offenhalten und dürfe nicht dösen. Worauf wartete man noch, ihn zu entlassen?
    Auf diese Weise versuchte Seine Eminenz, Ordnung in die Angelegenheiten des Palazzo Rusticucci zu bringen, so wie er es täglich
     in seinem Garten tat und wie er es gern im Staat getan hätte. Politisches Geschick ging ihm auch hierbei nicht ab, denn er
     hütete sich wohl, die losen Sitten Caterina Acquavivas zu beanstanden, die eine wichtige Informationsquelle für ihn war.
    Es gab noch ein anderes Thema, das der Kardinal niemals berührte, um seine Nichte zu schonen: die Kinderlosigkeit dieser Ehe,
     die ihn sehr bekümmerte, in einem solchen Maße, daß er, der sonst so verschwiegen ist, zu mir darüber sprach. »Seht, Rossellino«,
     sagte er eines Tages, ohne allerdings direkt auf Vittoria anzuspielen, »es ist nicht gut, wenn eine Frau kinderlos ist, vor
     allem, wenn sie eine starke Einbildungskraft hat. Denn früher oder später wird sie denken, daß vielleicht ein anderer Mann
     …«
    Vittoria hatte ihre schönen Hände auf ihr Haar gelegt, das sie über den Knien zusammengerafft hatte (dieselbe Haltung, die
     den Kardinal bei ihrer ersten Begegnung so stark irritierte), und beantwortete die Fragen ihres Onkels mit Geschick, Würde
     und viel Geduld, wobei sie bisweilen auch ihre eigene Meinung äußerte. Sie liebte Seine Eminenz zu sehr, bewunderte sein Genie
     zu sehr, um ihm nicht zu erlauben, als Familienoberhaupt zu sprechen und zu handeln, sogar über Francescos Kopf hinweg. Doch
     sie erlaubte es nur innerhalb bestimmter Grenzen.
    |71| Ihre Antworten waren differenziert. In bezug auf Flamineo,
il mancino
, den Wächter oder Tarquinias Rolle im »Kampf der beiden Alten« (der Kardinal drückt sich manchmal etwas drastisch aus, wie
     man bei Cherubis Entlassung erlebt hat) stimmte sie seinen Empfehlungen zu. Sie verschanzte sich allerdings hinter »der Autorität
     ihres Mannes«, um sich nicht festlegen zu müssen. Bei Giulietta wich sie schon aus. Wenn Giulietta weder heiraten noch den
     Schleier nehmen wolle, warum sie dann zwingen? Wo es jedoch um ihren Zwillingsbruder ging, antwortete Vittoria nicht nur ausweichend,
     sondern verteidigte ihn. Wer trage denn die Schuld, wenn Marcello bei der Sorghini die Zuneigung fand, die ihm Tarquinia in
     seiner Kindheit so grausam vorenthalten hatte? Und liege es nicht auf der Hand,

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