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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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bedeckt er sein Haupt, verneigt sich tief vor Vittoria und sagt mit Würde leise und fest:
    »Beruhigt Euch, Vittoria. Ich bin nie unmenschlich zu Euch gewesen. Und will es auch heute nicht sein, sosehr die Umstände
     mich dazu drängen könnten.«
    Danach macht er auf dem Absatz kehrt und führt die Soldaten weg. Vittoria folgt ihm mit den Augen und hat einen Gesichtsausdruck,
     den ich noch nie an ihr gesehen habe. Sie, die so tapfer gewesen ist, zittert am ganzen Körper und streckt wortlos beide Arme
     nach mir aus, als brauche sie meine Hilfe, um von dem Felsen herunterzukommen. Und ich gehe sie holen, obwohl ich mich so
     sehr vor dem Abgrund fürchte!
    Endlich haben wir beide unversehrt die Tür erreicht – ich weiß nicht, wie wir dahin gelangt sind. Die Signora umarmt und drückt
     mich, legt ihre Wange an mein Gesicht und flüstert mir mit erstickter Stimme ins Ohr:
    »Ach, Caterina, mit wieviel Haltung und Würde hat er gehandelt!«
     
     
    Marcello Accoramboni:
     
    Perettis schöne Geste hat alles verdorben. Sicher, wenn er sich anders verhalten hätte, wären der Fürst und ich nicht mehr
     am Leben und könnten seine Seelengröße nicht beklagen: Peretti hätte uns mit einem Degenstoß ins Herz im schönsten Schlaf
     getötet, und wir wären, wie Pfarrer Racasi sagen würde, »im Schmutz unserer Sünden« gestorben; Vittoria läge zerfetzt und
     zerschmettert am Fuße der Steilwand; Caterina, vorerst überlebend, wäre der weltlichen Gerichtsbarkeit ausgeliefert und bald
     darauf gehängt worden: die es am wenigsten verdiente, hätte am längsten leiden müssen.
    |185| Peretti und seine Sbirren haben kaum Lärm gemacht, und die Unterhaltung zwischen ihm und Vittoria verlief noch leiser. Was
     mich geweckt hat, war das Schluchzen meiner Zwillingsschwester. Schon als Kind konnte ich sie nicht weinen hören, ohne daß
     mir die Tränen in die Augen stiegen, ob ich den Grund ihres Kummers kannte oder nicht.
    Vittoria bemüht sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken, und da sie draußen vor der Tür steht, dringt es nur sehr gedämpft zu
     mir herein, doch es hat mich geweckt und schnürt mir das Herz zusammen. Ich ziehe mich eilig an und bin kaum fertig, als Vittoria,
     von Caterina gefolgt, eintritt, den seidenen Vorhang wegschiebt und auf meine Seite kommt. Sie sieht mich schweigend an, legt
     ihr Hauskleid ab und beginnt, Toilette zu machen.
    Was immer Tarquinia sagt: seit unserer frühesten Kindheit bis zum Erwachsenenalter haben Vittoria und ich uns nie voreinander
     geschämt. Die Superba hat nichts von den Beziehungen zwischen uns Zwillingen begriffen. Sie entrüstete sich, daß ich Vittoria
     weder anfassen noch umarmen wollte, nahm andererseits aber Anstoß daran, daß meine Schwester sich völlig ungeniert vor mir
     auszog. Tarquinia versteht nicht, daß diese alberne Heuchelei zwischen uns überflüssig ist.
    Als Vittoria fertig ist, geht sie auf die andere Zimmerseite und setzt sich an ihren Frisiertisch, weist aber Caterinas Hilfe
     mit einer Handbewegung zurück. Ich weiß, was sie jetzt vorhat: die Tränenspuren mit Schminke abdecken. Nicht nur aus Eitelkeit,
     sondern weil sie sich schämt, geweint zu haben. Vittoria liebt Helden und hält sich ebenfalls für sehr tapfer. Ich bemerke,
     daß sie während dieser Verschönerung nicht ein einziges Mal zu dem schlafenden Fürsten hinsieht. Das finde ich sehr verwunderlich,
     denn ich habe noch keine Ahnung, was sich draußen zwischen Peretti und Vittoria abgespielt hat.
    Nach dem Schminken winkt Vittoria ihre Zofe heran, die ihr das Haar bürsten soll, was Caterina wortlos tut. Es gibt zwei Gründe
     für Caterinas ungewöhnliches Schweigen: der Fürst schläft noch, und sie sieht im Spiegel Vittorias Gesicht. Ich mache inzwischen
     Feuer, und als es richtig brennt, setze ich mich an den Kamin. In dieser Stellung sehe ich Vittoria im »verlore nen Profil«, wie Raffael die Frauen gerne malte: die Schläfe, der Ansatz des Backenknochens, die Nase, die man mehr ahnt denn
     sieht, die hintere Kinnlinie … Das Profil, das ich betrachte, |186| scheint aus Marmor zu sein, und ich frage mich, was diese Strenge zu bedeuten hat.
    Caterina macht mit ihrer Bürste kaum Geräusche, und was Orsini weckt, ist meiner Meinung nach nicht dieses leichte Kratzen,
     sondern die spannungsgeladene Atmosphäre im Raum. Beim Erwachen macht er – wie ich deutlich beobachten kann – eine freudige
     Bewegung, als er Vittoria in seiner Nähe erblickt. Er stützt sich

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