Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
kommt daher, dass er schon so lange hier lebt. Er kennt nicht jeden auf der Brücke und will das auch gar nicht, aber er kann Brückenbewohner trotzdem von anderen unterscheiden, und zwar mit unfehlbarer Sicherheit.
Diesem hier fehlt etwas. Etwas stimmt nicht mit ihm; sein Zustand zeugt nicht von Drogen, sondern ist eine dauerhaftere Form des Nichthierseins. Und obwohl es unter der Brückenbevölkerung durchaus auch solche wie ihn gibt, sind sie irgendwie in die Struktur des Ortes eingebunden, tauchen normalerweise nicht einfach so aufs Geratewohl auf und stören das merkantile Ritual.
Irgendwo hoch oben hämmert der Wind aus der Bucht gegen eine lose Plastikklappe, ein wildes Geprügel, wie das idiotische Geflatter eines riesigen, verwundeten Vogels.
Fontaine schaut in braune Augen in dem Gesicht, das immer noch nicht richtig scharf werden will (weil es dazu unfähig ist, denkt er jetzt), und bereut, dass er die Tür aufgesperrt hat. Selbst jetzt nagt die Salzluft an den blitzenden, lebenswichtigen Metallteilen seiner Waren. Er macht eine Geste mit dem Lauf seiner Pistole: Verschwinde.
Der Junge streckt die Hand aus. Eine Armbanduhr.
»Was ist damit? Willst du die verkaufen?«
Nichts in den braunen Augen deutet darauf hin, dass er sprechen kann.
Angetrieben von etwas, was er als Zwang identifiziert, tritt Fontaine einen Schritt vor. Sein Finger spannt sich um den Double-Action-Abzug. Aus Sicherheitsgründen ist die Kammer unter dem Schlagbolzen leer, aber er braucht nur einmal rasch durchzuziehen, dann ändert sich das.
Sieht aus wie Edelstahl. Schwarzes Zifferblatt.
Fontaine betrachtet die schmutzigen schwarzen Jeans, die durchgescheuerten Laufschuhe und das verschossene rote T-Shirt, das sich über einen typischen von Unterernährung aufgedunsenen Bauch spannt.
»Willst du mir die zeigen?«
Der Junge schaut auf die Armbanduhr in seiner Hand und deutet dann auf die drei im Schaufenster.
»Klar«, sagt Fontaine, »wir haben Armbanduhren. Jeder Art. Willst du sie sehen?«
Der Junge blickt ihn an. Sein Finger ist immer noch auf die Uhren gerichtet.
»Komm«, sagt Fontaine, »komm rein. Kalt hier draußen. « Er hält die Waffe noch in der Hand, aber sein Finger hat sich entspannt. Er tritt in den Laden zurück. »Kommst du?«
Nach einer Pause folgt ihm der Junge. Er hält die Armbanduhr mit dem schwarzen Zifferblatt, als wäre sie ein kleines Tier.
Ist garantiert Müll, denkt Fontaine. Eine Army-Waltham mit verrostetem Innenleben. Idiotisch. Idiotisch von ihm, dass er diesen Irren reingelassen hat.
Der Junge steht mit starrem Blick in der Mitte des winzigen Ladens. Fontaine macht die Tür zu, schließt sie nur einmal ab und zieht sich hinter seinen Tresen zurück – alles, ohne die Waffe zu senken, in Reichweite seines Besuchers zu kommen oder ihn aus den Augen zu lassen.
Der Junge macht große Augen, als er das Auslagekästchen mit den Uhren sieht. »Eins nach dem anderen«, sagt Fontaine und schiebt das Kästchen mit der freien Hand aus seinem Blickfeld. »Lass mal sehen.« Er zeigt auf die Uhr in der Hand des Jungen. »Hierher«, befiehlt er und tippt auf das verblasste goldene Rolex-Logo auf der dunkelgrünen, gepolsterten runden Kunstlederunterlage.
Der Junge scheint zu verstehen. Er legt die Uhr auf die Unterlage. Fontaine sieht das Schwarze unter den rissigen Fingernägeln, als er die Hand zurückzieht.
»Shit«, sagt Fontaine. Seine Augen streiken. »Geh mal eben ’nen Schritt zurück, dahin«, sagt er und zeigt ihm mit dem Lauf der Smith & Wesson dezent die Richtung. Der Junge tritt einen Schritt zurück.
Ohne den Blick von dem Jungen zu wenden, kramt er in der linken Seitentasche des Trenchcoats und bringt eine schwarze Lupe zum Vorschein, die er sich ins linke Auge schraubt. »Und keine Bewegung, okay? Wir wollen doch nicht, dass die Knarre hier losgeht …«
Fontaine nimmt die Armbanduhr in die Hand, kneift die Augen zusammen und erlaubt sich einen raschen Blick durch die Lupe. Stößt unwillkürlich einen Pfiff aus. »Jaeger-LeCoultre. « Er öffnet die Augen zu einem prüfenden Blick; der Junge hat sich nicht gerührt. Er kneift die Augen wieder zusammen, schaut sich diesmal die Militärsignatur am Rückdeckel der Uhr an. »Royal Australian Air Force, 1953«, übersetzt er. »Wo hast du die geklaut?«
Nichts.
»Die ist so gut wie neu.« Fontaine ist mit einem Mal völlig verwirrt. »Zifferblatt ausgetauscht?«
Nichts.
Fontaine blinzelt durch die Lupe. »Alles
Weitere Kostenlose Bücher