Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
original?«
Fontaine will diese Uhr haben.
Er legt sie auf die grüne Unterlage, auf das abgenutzte Symbol einer goldenen Krone, und stellt fest, dass es sich
bei dem schwarzen Kalbslederarmband um eine Spezialanfertigung handelt; es ist per Hand um die fest zwischen den Bandanstößen verankerten Stifte vernäht. Allein schon diese Arbeit, die seiner Ansicht nach entweder in Italien oder Österreich ausgeführt worden ist, kann durchaus mehr gekostet haben als manche der Uhren in seinem Auslagekästchen. Der Junge nimmt sie sofort an sich.
Fontaine stellt ihm das Auslagekästchen hin. »Schau her. Willst du tauschen? Hier, eine Gruen Curvex. Tudor ›London‹, 1948; hübsches originales Zifferblatt. Oder die hier, Vulcain Cricket, vergoldetes Gehäuse, sehr sauber.«
Aber er weiß bereits, dass sein Gewissen ihm nicht erlauben wird, dieser verlorenen Seele die Uhr zu rauben, und dieses Wissen schmerzt ihn. Fontaine hat sich sein Leben lang bemüht, Unredlichkeit zu kultivieren, »clevere Praktiken«, wie sein Vater es genannt hat, aber er versagt ständig.
Der Junge beugt sich über das Auslagekästchen. Fontaine hat er völlig vergessen.
»Hier«, sagt Fontaine, schiebt das Kästchen beiseite und stellt ihm dafür sein ramponiertes Notebook hin. Er öffnet die Seiten, auf denen er nach Uhren sucht. »Drück da drauf, dann da drauf. Es sagt dir, was du siehst.« Er demonstriert es. Eine Jaeger mit silbernem Zifferblatt.
Fontaine drückt auf die zweite Taste. »Jaeger Chronometer, 1945, Edelstahl, originales Zifferblatt, Boden graviert«, sagt das Notebook.
»Boden«, sagt der Junge. »Graviert.«
»So wie hier«, Fontaine zeigt dem Jungen den Edelstahlboden einer Tissot, goldfilled, mit Tankgehäuse. »Aber mit einer Inschrift, zum Beispiel ›Joe Blow, fünfundzwanzig Jahre bei Blowcorp, Glückwunsch‹.«
Das Gesicht des Jungen ist ausdruckslos. Er drückt eine Taste. Eine weitere Uhr erscheint auf dem Bildschirm. Er drückt die zweite Taste. »Vulcain, 1960, springende Stunde,
Chrom, Messingverzierungen an den Bandanstößen, Zifferblatt sehr gut.«
»Sehr gut«, wiederholt Fontaine. »Nicht gut genug. Siehst du diese Stellen hier?« Er zeigt auf einige dunklere Flecken, die über den Scan verstreut sind. »Wenn es ›ganz hervorragend‹ hieße, dann okay.«
»Hervorragend«, sagt der Junge und blickt zu Fontaine auf. Er drückt die Taste, die das Bild einer weiteren Uhr aufruft.
»Ich will mir diese Uhr mal ansehen, okay?« Fontaine zeigt auf die Uhr in der Hand des Jungen. »Keine Angst. Ich geb sie dir zurück.«
Der Junge blickt von der Armbanduhr zu Fontaine. Fontaine steckt die Smith & Wesson in die Tasche. Zeigt dem Jungen die leeren Hände.
»Ich geb sie dir zurück.«
Der Junge streckt die Hand aus. Fontaine nimmt die Uhr.
»Sagst du mir, wo du die herhast?«
Keine Reaktion.
»Willst du ’ne Tasse Kaffee?«
Fontaine zeigt nach hinten, zu der leise vor sich hinköchelnden Kanne auf der Kochplatte. Riecht das bittere, stärker werdende Gebräu.
Der Junge versteht.
Er schüttelt den Kopf.
Fontaine schraubt sich die Lupe ins Auge und vergisst alles um sich herum.
Verdammt. Er will diese Uhr haben.
Später, als der Junge vom Bento-Lunchdienst Fontaine das Mittagessen bringt, steckt die Jaeger-LeCoultre-Militärarmbanduhr in der Tasche seiner grauen Tweedhose mit der hohen Taille und den extravaganten Bundfalten, aber Fontaine weiß, dass sie ihm nicht gehört. Er hat den Jungen in den rückwärtigen Teil des Ladens verfrachtet, in den
vollgestopften kleinen Bereich, der sein Geschäft von seinem Privatleben trennt, und hat festgestellt, dass er seinen Besucher … ja, riechen kann; unter dem morgendlichen Kaffeeduft ein eindeutiger und hartnäckiger Gestank nach altem Schweiß und ungewaschenen Sachen.
Als der Bento-Junge zu seinem mit Schachteln beladenen Fahrrad hinausgeht, löst Fontaine die Klammern an der, die er gerade bekommen hat. Heute gibt’s Tempura, nicht gerade sein Lieblingsessen beim Lunchdienst, weil es rasch kalt wird, aber trotzdem, er hat Hunger. Dampf wallt aus der Miso-Schüssel auf, als er den Plastikdeckel abnimmt. Er hält inne.
»He«, ruft er nach hinten in den Raum hinter dem Laden, »willst du Miso?« Keine Antwort. »Suppe, hörst du mich?«
Fontaine klettert seufzend von seinem hölzernen Hocker herunter und geht mit der dampfenden Suppe in den hinteren Teil des Ladens.
Der Junge hockt im Schneidersitz auf dem Fußboden, das offene Notebook
Weitere Kostenlose Bücher