Idoru
Chia war völlig verwirrt.
Zona sah sie an dem geschälten Stock entlang an. »Eine Redewendung. Idioma. Hat nichts mit Henkern zu tun.« Sie ließ den Stock sinken und machte etwas mit ihrem Messer, so daß die Klinge mit einem dreifachen Klicken einklappte. Die Eidechse, die sie zuvor angepaßt hatte, kam über ein schmales Felssims angehuscht; sie drückte sich so flach daran, daß sie beinahe zweidimensional wirkte. Zona nahm sie auf und streichelte sie, so daß sie eine neue Farbkonfiguration annahm.
»Was machst du da?«
»Stärkere Verschlüsselung«, sagte Zona und setzte sich die Eidechse ans Revers ihrer Jacke, wo sie wie eine Brosche hing.
Ihre Augen waren kleine Kugeln aus Onyx. »Jemand sucht dich. Wahrscheinlich haben sie dich schon gefunden. Wir müssen sicherstellen, daß unser Gespräch geschützt ist.«
»Kriegst du das mit der hin?« Der Kopf der Eidechse bewegte sich.
»Vielleicht. Sie ist neu. Aber die sind besser.« Sie zeigte mit dem Stock nach oben. Chia blinzelte in den Abendhimmel: -133—dunkle Wolken mit tiefroten Sonnenuntergangsstreifen. Ganz hoch oben glaubte sie Flügel dahingleiten zu sehen. Zwei fliegende Gebilde. Groß. Keine Flugzeuge. Aber dann waren sie weg. »Illegal in deinem Land. Kolumbianisch. Aus den Datenhäfen.« Zona stellte ihren Stock mit dem spitzen Ende auf den Boden und begann, ihn zwischen den Handflächen erst in die eine, dann in die andere Richtung zu drehen. In einem uralten Comic hatte Chia mal gesehen, wie ein Kaninchen auf diese Weise Feuer gemacht hatte. »Du bist bescheuert.«
»Warum?«
»Du hast einen Koffer durch den Zoll gebracht? Den Koffer einer Fremden?«
»Ja …«
»Bescheuert!«
»Bin ich nicht.«
»Sie ist eine Schmugglerin. Du bist hoffnungslos naiv.«
Aber du warst damit einverstanden, mich herzuschicken, dachte Chia, und hätte auf einmal am liebsten losgeheult.
»Aber warum suchen die mich?«
Zona zuckte die Achseln. »Im Distrikt würde ein vorsichtiger Schmuggler keinen Packesel frei herumlaufen lassen …«
Etwas Silbriges und Kaltes vollführte irgendwo hinter und unter Chias Nabel einen engen kleinen Salto, und damit kam die unwillkommene Erinnerung an den Waschraum im Whiskey Clone und an die Ecke von etwas, was sie nicht erkannt hatte. In ihrer Tasche. Zwischen ihren TShirts. Als sie sich mit einem die Hände abgetrocknet hatte.
»Was ist?«
»Ich mach jetzt lieber Schluß. Mitsuko ist Tee machen gegangen …« Sie redete zu schnell, verschluckte die Wörter halb.
»Schluß? Bist du verrückt? Wir müssen …«
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»Tut mir leid. Tschüß.« Sie nahm die Brille ab und fummelte an den Handgelenkriemen herum.
Ihre Tasche stand noch dort, wo sie sie hingestellt hatte.
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17 Die Ruhmesmauern
» W ir hatten nicht die Zeit, das ordentlich zu machen«, sagte die Frau, als sie Laney den Datenhelm reichte. Er saß auf einer zum Tisch passenden pinkfarbenen Kinderbank aus Plastik. »Falls man’s überhaupt ordentlich machen kann.«
»Es gibt Bereiche, an die wir nicht rangekommen sind«, sagte der japanische Amerikaner mit dem Pferdeschwanz.
»Blackwell hat gesagt, Sie hätten Erfahrung mit Prominenten.«
»Mit Schauspielern«, sagte Laney. »Und mit Musikern, Politikern …«
»Wahrscheinlich werden Sie feststellen, daß das hier was anderes ist. Größer. Um etliche Größenordnungen.«
»An was kommt ihr nicht ran?« fragte Laney, während er den Helm aufsetzte.
»Das wissen wir nicht«, hörte er die Frau sagen. »Sie werden schon ein Gespür für die Dimensionen der Sache kriegen, wenn Sie reingehen. Die Leerstellen könnten Buchhaltung, Steuerrechtskram oder auch Verträge sein … Wir sind bloß vom technischen Team. Er hat andere Leute, die jemand bezahlt, damit sie dafür sorgen, daß manches davon möglichst geheim bleibt.«
»Und warum holen wir die dann nicht dazu?« fragte Laney.
Er spürte Blackwells Hand, die sich wie ein Sandsack auf seine Schulter legte. »Darüber sprechen wir beide später. Jetzt gehen Sie rein und schauen sich um. Wofür wir Sie bezahlen, ja?«
In der Woche nach Alison Shires’ Tod hatte Laney sich über das DatAmerica-Konto von Außer Kontrolle noch einmal Zugang zum Site ihrer persönlichen Daten verschafft. Der -136—Knotenpunkt war verschwunden, und es hatte eine gewisse, kaum merkliche Reduktion stattgefunden. Weniger eine Schrumpfung als vielmehr eine Entrümpelung, ein Sichschließen.
Der größte Unterschied war jedoch, daß sie schlicht keine Daten mehr
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