Idylle der Hyänen
vorsichtig das Glas vom Holzbrett, trank einen kleinen Schluck und hielt Fischer das Glas hin.
»Jetzt nicht, danke«, sagte er. Sie stellte das Glas ab und rückte es vom Rand weg.
»Später hat Jesus die Menschen in ihre Dörfer zurückgeschickt. Dann stieg er auf einen Berg, weil er beten wollte, allein, weit weg von den anderen.«
»Auch von seinen Freunden?«
»Er mußte ganz für sich sein, um Gott im Gebet nahezukommen.«
»Ach so.«
»Vier Nächte blieb er auf dem Berg«, fuhr Fischer fort.
»Seine Jünger waren längst wieder in ihr Boot gestiegen und losgefahren; doch ein Sturm kam auf und warf das Boot hin und her; Jesus bemerkte es, stieg von dem Berg und ging zu ihnen.«
»Über das Wasser?« rief Katinka und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Fischer legte den Arm um sie, und sie lehnte sich an ihn. »Hier kannst du ruhig laut sprechen, unten auf der Straße ist es ja auch laut. Ja, er ist über das Wasser gegangen, und seine Freunde sind genauso erschrocken wie du, sie haben geglaubt, ein Gespenst kommt auf sie zu in der Nacht.«
Katinka kicherte.
»Sie haben geschrien vor Furcht«, erzählte er.
»Aber dann hörten sie die Stimme ihres Herrn und beruhigten sich. Habt Vertrauen, sagte er, fürchtet euch nicht. Fürchtet euch nicht.«
Katinka seufzte und grub ihre Hand in das Fell des Elchs, den Fischer immer noch festhielt.
»Einer seiner Jünger war sich nicht ganz sicher, und er rief in die Dunkelheit: Wenn du es bist, Jesus, dann befiehl mir, daß ich zu dir über das Wasser komme! Und Jesus sagte: Dann komm! Petrus, so hieß der Jünger, stieg über den Bootsrand und stellte sich aufs Wasser. Und er konnte tatsächlich auf den Wellen gehen.«
»So wie Jesus.«
»So wie Jesus. Aber der Sturm wurde noch stärker, und Petrus bekam Angst, das ist verständlich. Er schwankte, und je heftiger der Wind blies, desto kraftloser wurde Petrus, und er begann zu sinken. Er sank und rief: Hilf mir, Jesus! Und Jesus griff nach seiner Hand und hielt ihn fest. Und weißt du, wie er Petrus genannt hat? Einen Kleingläubigen! Weil er kein Vertrauen hatte, weil er nur einen Beweis für die Kraft und die göttliche Macht von Jesus haben wollte. Und das gefiel Jesus nicht. Sie stiegen ins Boot, und von einer Sekunde zur andern hörte der Wind auf, und die Wellen peitschten nicht mehr gegen die Planken, und es wurde ganz still auf dem See. Und die Jünger fielen vor Jesus auf die Knie und beteten zu ihm und glaubten ihm.« Nach einer Weile sagte Katinka: »Und wie geht’s weiter?«
»Am nächsten Morgen kamen sie in das Dorf Gennesaret. Aber das erzähle ich dir ein andermal.«
»Woher weißt du das alles?«
Bevor er antwortete, tat Fischer etwas, das er lange nicht mehr und bei einem Kind, das er als Zeugen vernehmen mußte, noch nie getan hatte: Er küßte das Mädchen ins Haar. Und weil er ihre Nähe wie eine eigentümliche Art von Obhut empfand, küßte er sie ein zweites Mal. Katinka zeigte keine Reaktion.
»Ich war früher Mönch, ich habe jeden Tag und jede Nacht gebetet und in der Bibel gelesen.«
»Ach so«, sagte Katinka. Dann seufzte sie wieder und zupfte an ihrem Rock.
»Der Mann, mit dem du am Meer gewesen bist und zu dem du Papa sagen durftest«, sagte Fischer. »Wie heißt der?«
Katinka hob die rechte Hand, packte Fischers Nase und zog seinen Kopf zu sich herunter; dann hielt sie die linke Hand an sein Ohr.
»Jonathan«, flüsterte sie.
Den Namen hatte Fischer im Lauf der Ermittlungen schon einmal gehört.
»Und sein Familienname?« sagte er leise.
»Den weiß ich nicht.«
»Bin gleich wieder da«, sagte Fischer und stand auf. Das Handy steckte in seiner Jacke, und diese hatte er über einen Stuhl im Zimmer gehängt. Obwohl er Liz’ Nummer gewählt hatte, ging Georg Ohnmus ans Telefon.
»Liz ist im Westend, kann ich dir helfen?«
»Such mir bitte auf der Liste den Namen Jonathan heraus, es eilt.«
Bei jeder Ermittlung fertigten sie ein Verzeichnis aller Namen an, die ihnen unterkamen.
Nach einer Minute nahm Ohnmus wieder den Hörer in die Hand. »Jonathan und Elisabeth Badura, Barbierstraße, am Nothkaufplatz.«
»Die alte Frau mit den Lilien«, sagte Fischer.
»Bitte ruf sie an.«
»Das hat Micha schon versucht; Badura besitzt einen weißen VW Passat. Aber weder er noch seine Frau sind zu erreichen.«
Fischer ging zurück auf den Balkon und sah, daß Katinka aus dem Wasserglas getrunken hatte. Er nahm den Elch und setzte sich neben sie.
»Ich bring
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