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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Trambahnschienen und einem Grünstreifen geteilte Sonnenstraße zwischen Sendlinger-Tor-Platz und Stachus. Je mehr Verkehr herrschte, desto interessierter blickte Fischer von seinem Balkon hinunter, ohne daß er seine Neugier hätte begründen können. Er mochte es, wenn unten Menschen wuselten und die Autos sich an den Ampeln stauten, wenn Fahrradfahrer Fußgänger beschimpften und umgekehrt; er brachte stundenlang Geduld für das gewöhnliche Treiben gewöhnlicher Leute an einem gewöhnlichen Tag auf. Er saß da und schaute und lauschte. Manchmal bemerkte er auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig vor dem gesichtslosen fünfstöckigen Flachbau Passanten, die stehengeblieben waren und hinauf in seine Richtung deuteten. Er konnte sich ihr Staunen gut vorstellen.
    Vermutlich hatte er nicht nur als einziger auf dem aus sechs Abteilungen bestehenden Balkon dieses Hauses, sondern als einziger Mieter überhaupt in der Stadt die Möglichkeit, sich zum Nichtstun in einen blauweiß gestreiften Strandkorb zu setzen.
    Den Korb hatte Fischer in dem Dorf auf Sylt, wohin er mit Ann-Kristin fast jedes Jahr reiste, extra anfertigen lassen, mit Sonderhöhe, damit er nicht mit dem Kopf gegen das Dach stieß. Oft saßen sie beide darin und lasen oder schliefen.
    Obwohl der Häuserblock auf der anderen Seite ihm die Sicht nahm, wartete Fischer manchmal in seinem nach Osten gerichteten Strandkorb auf den Sonnenaufgang und dachte an das sättigende Licht und die vollendete Stille in jenem Inseldorf; dann zögerte er seinen morgendlichen Aufbruch hinaus und versöhnte sich mit dem tobenden Mann, zu dem er am Ende seiner Mönchszeit geworden war.
    In der Nacht zum Dienstag ließ er, nachdem er Sakko und Krawatte abgelegt hatte, frische Luft ins Zimmer, ging aber nicht auf den Balkon, sondern warf die Sachen, die er seit zwei Tagen trug, in den Wäschekorb, duschte und öffnete, als es klingelte, in Jeans und Sweatshirt und barfuß die Wohnungstür.
    »Tanti auguri!« rief Ann-Kristin Seliger, umarmte und küßte und umarmte ihn noch einmal. Er nahm ihr die schwere Ledertasche ab, und sie holte zwei Gläser aus der Küche.
    »Bist du grade erst gekommen?«
    »Ja«, sagte er und zog den Korken aus der Weinflasche, die sie mitgebracht hatte.
    Sie stießen an und tranken, und Ann-Kristin küßte ihn auf den Mund, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellen mußte.
    Jedes Jahr an seinem Geburtstag kam sie Punkt Mitternacht zu ihm, und er hatte es bisher immer geschafft, pünktlich zu Hause zu sein. Wenn er in der Nacht weiter an einer Ermittlung arbeiten mußte oder Bereitschaftsdienst hatte, ließ er sich für zwei Stunden vertreten. Es war ein Liebesritual, sie pflegten es seit dreizehn Jahren. Manchmal schliefen sie miteinander. Meist jedoch forderte sie ihn auf, zu erzählen und nebenbei die Musik zu spielen, die sie ihm geschenkt hatte. In diesem Jahr war es die CD einer unbekannten russischen Pianistin, Julia Fedulajewa, deren Chopin und Ligeti-Interpretationen Ann-Kristin so beglückt hatten, daß sie sie in ihrem Taxi ununterbrochen spielte.
    »Woher kennst du sie?« fragte Fischer.
    Wie immer saßen sie auf dem Boden, auf einer roten Baumwolldecke, an die Ledercouch gelehnt, Weingläser neben sich.
    »Ein Kollege hat sie mir empfohlen, er sammelt Raritäten. Er hat mehrere CDs von ihr in einem Second-Hand-Shop entdeckt. Angeblich lebt sie hier in der Stadt.«
    »Geheimnisvoll«, sagte Fischer.
    Sie hörten zu und tranken, und Fischer füllte die Gläser.
    »Forsch doch mal in deinem allmächtigen Computer nach ihr.«
    »Mein Computer ist kein Gott«, sagte Fischer.
    »Und vielleicht möchte die Musikerin unerkannt bleiben, und das solltest du dann respektieren.«
    »Erstens«, sagte Ann-Kristin und strich ihm mit dem Finger an den Augenringen entlang, »ist das pure Spekulation, ob sie unerkannt bleiben will, und zweitens mußt du nicht immer die Jungfrau raushängen lassen.«
    »Ich lasse keine Jungfrau raushängen.«
    »Doch, so seid ihr Jungfrauen: Bloß nichts verraten. Geheimniskrämer seid ihr!«
    Sie stieß mit ihrem Glas gegen seine wuchtige Nase, als proste sie dem Zinken zu, trank und küßte ihn mit merlotfeuchten Lippen auf den Mund. »Wie weit bist du? Habt ihr das Mädchen gefunden? Mußt du noch mal weg?«
    »Nein«, sagte er. »Ich möchte gleich mit dir schlafen.«
    »Das weiß ich doch.«
    »Woher denn?«
    »Das seh ich!« Sie tippte mit dem leeren Glas an seine Nasenspitze. »Erst trinken wir die Flasche aus. Und

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