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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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jetzt sag: Wie weit bist du?«
    »Vielleicht weiter, als ich glaube.« Er hob die Flasche, die er neben die Couch gestellt hatte, und roch daran. »Ich war vorhin bei der Frau und dem Sohn eines Mannes, der die Ermordete kannte, was er bestreitet, und ich verstehe nicht, warum. Da ist eine andere Frau, über die er sich ausschweigt. Angeblich war sie in einem Kloster, eine Nonne, sie trug ein rotes Cape und hatte eine schwarze Reisetasche bei sich. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Die Ehefrau hält ihren Mann für depressiv, sein Sohn hält ihn für cool, aber auch für unberechenbar. Ich saß in der Küche der beiden, Altbau, viel Holz, Stühle vom Flohmarkt, die Frau trank Weißwein, der Sohn Johannisbeersaft. Die Frau arbeitet beim Fernsehen, wie ihr Mann, der Sohn hat Abitur gemacht und will eine Zeitlang ins Ausland gehen. Sie haben ihre Ziele, ihre Aufgaben, sie haben ruhige Hände. Dann zeigten sie mir das Arbeitszimmer des Mannes, er heißt Sebastian Flies und nennt sich als Autor Jakob Seiler, unter diesem Namen ist er auch in dem Hotel registriert, wo er wohnt. Auf dem Schreibtisch des Arbeitszimmers liegen stapelweise Blätter, unbeschrieben. Nach der Aussage seiner Frau wollte Flies einen Roman schreiben, aber wie es aussieht, hat er nie damit begonnen. Er verließ seine Familie und tauchte unter. Und plötzlich erscheint er als Zeuge in einem Mordfall. Er leugnet, er lügt, ich kann seine Lügen in seinen Augen sehen, er weiß, daß ich ihn durchschaue, er weiß, daß er kein überzeugender Lügner ist, sondern ein Dilettant, trotzdem macht er weiter. Ich war zwei Stunden bei der Familie, und als ich ging, richteten die beiden kein Wort an ihn, keinen Gruß, keine Bitte, keine Frage. Die Frau, Sara, hatte mich nicht einmal gefragt, ob ich herausgefunden hätte, was er vorhabe, wie lange er noch in dem Hotel bleiben wolle, sie fragte gar nichts. Der Sohn fragte mich, wie es seinem Vater gehe, immerhin, ich sagte: Vermutlich gut. Da mußte er grinsen. Ich fragte ihn, wieso, und er sagte: Nur so.«
    »Sie hassen ihn«, sagte Ann-Kristin.
    »Das glaube ich nicht«, sagte Fischer. »Sie haben ihn von ihrer Innenweltkarte gestrichen, er existiert nicht mehr für sie.«
    »Auch für den Sohn nicht?«
    »Schattenhaft.«
    Sie stießen mit den Gläsern an und tranken. Die Flamme der weißen Kerze in dem geschwungenen hohen Glas, das vor der Balkontür stand, flackerte. Julia spielte einen As-Dur-Walzer, während sie begannen, sich gegenseitig auszuziehen.
    Es war still. Er lag auf dem Boden und lauschte; vom Flur her kam nicht das geringste Geräusch, kein Wasserrauschen einer Toilette, kein Gebrabbel eines Betrunkenen, kein Knacken im Gemäuer; alles, was an sein Ohr drang, war sein Atem. Er atmete in die Hände, die er wie eine Maske vors Gesicht hielt. Doch er wurde nicht ruhig, und das Brausen in seinem Kopf immer heftiger.
    Seit Sebastian Flies in seinem Zimmer war, schlug sein Herz über ihn hinaus, und er fror. Erinnerungen suchten ihn heim, die er nicht bestellt hatte. Er hatte endlich allein sein wollen, er hatte einen Teller Hühnerfleisch mit Reis essen, vier oder fünf Biere trinken, viele Zigaretten rauchen und danach ins Hotel zurückkehren und alles vergessen wollen, was seit der vergangenen Nacht geschehen war; ohne seine Absicht, ohne seine Zustimmung und ohne ihn selbst. Das war er nicht gewesen, sechzig Kilometer von hier, da draußen am See, das konnte er nicht gewesen sein. Er hatte die Frau niemals getroffen. Sie verwechselten ihn, der Kommissar war hinter jemand anderem her. Durch einen absurden Zufall war er ins Visier der Polizei geraten. Er sagte die Wahrheit: Ich kenn die Frau nicht! Ich hab sie nicht getötet! Ich krieg keine Luft! dachte er und schob sich, flach auf dem Bauch liegend, aufs Bett zu, über den schmutzigen Teppich, ich hab die Frau nicht umgebracht!
    Und dann.
    Dann sitzt er auf der Terrasse des Einfamilienhauses im Osten der Stadt – da wollte er niemals wieder hin –, und vor ihm auf dem runden Tisch liegt ein angebissener Apfel. Neben ihm sitzt eine Frau, und sie tragen beide kurze Hosen, und er geniert sich für seine dürren weißen Beine, und sie, das weiß er, geniert sich nicht für ihre weißen Stampfer. Sie hat ihn zum Reden einbestellt. Nur du und ich, sagt sie. Sie, die neuerdings denselben Nachnamen trägt wie er, denn vor zwei Monaten ist sie die Ersatzfrau seines Vaters geworden. Bei der Zeremonie auf dem Standesamt hat seine Schwester ihn an der

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