Idylle der Hyänen
Kind wieder eingesperrt und ist rausspaziert, ist zu dem Hochhaus gefahren, hat jemanden getroffen. Wie viele Leute wohnen da? Zweihundert? Dreihundert?«
»Zweihundertneunundachtzig«, sagte Neidhard Moll.
»Zweihundertneunundachtzig Leute. Die Frau läuft an all denen vorbei, geht in eine Wohnung, wird ermordet, aber das ist noch nicht der Höhepunkt. Der Mörder trägt die Leiche an den Zweihundertneunundachtzig Leuten vorbei in den Keller, legt sie in einem Schrank ab und spaziert davon. Und wenn die zwei Jungen nicht zufällig Fußball spielen da unten und den Ball gegen das Gitter knallen, was dann? Irgendwann fängt die Leiche an zu stinken. Aber wie lange stinken Tote in Wohnungen, bevor jemand was merkt? Zwei Monate? Drei Monate? Hey, Liz, du bist unser Cheerleadergirl, wenn’s um neue technische Fahndungsmaßnahmen geht.«
»Was ist denn mit dir los?« fragte Liz.
»Wir haben jetzt den biometrischen Personalausweis, sehr gut, mit dem wedelst du doch gern herum, weil du ihn für einen Fortschritt hältst. Du glaubst, je mehr Daten wir erfassen, desto schneller stellen wir einen Verbrecher, oder noch besser: Wir verhindern Verbrechen!«
»Warum bin ich ein Cheerleadergirl?«
»Wir erreichen gar nichts! Die Killer vom elften September waren total legal in Amerika, und so wird’s immer laufen. Verbrecher handeln immer aus einer Legalität heraus, die großen, meine ich, die gefährlichen, die, wegen denen wir die biometrischen Ausweise und den genetischen Fingerabdruck und ViClas und die operative Fallanalyse und das alles erfunden haben. Glaubst du, deswegen sieht die alte Frau mehr als eine Madonna, die ein Eis ißt, und ein notgeiler Bankkaufmann mehr als eine potentielle Übergangsbraut fürs Wochenende? Glaubst du das? Ich nicht, ich seh da draußen die Leute, und sie wollen Unterhaltung, und wenn’s im Treppenhaus stinkt, dann muß man über Nacht das Fenster aufmachen, und wenn arabische Studenten ihr Aussehen verändern und geheime Treffen organisieren und Flugunterricht nehmen, dann passiert das einfach, und niemand merkt was. Verstehst du?«
»Hast du heut nacht den falschen Film gesehen?« Liz schüttelte nur noch den Kopf.
»Ich hab überhaupt keinen Film gesehen!« sagte Schell laut. »Ich hab keinen Fernseher.« Dann holte er tief Luft und rieb sich die Arme. »Ich weiß auch nicht, wieso mich der Fall so aufregt. Ist vielleicht wegen dem Kind. Oder wegen der Frau in dem Schrank. Weil das alles so fürchterlich ist und anscheinend alles am hellichten Tag passiert ist, und weil ich wieder mal viel zu persönlich bin bei der ganzen Sache. Meine Tochter ist auch sieben, na und? Und ihre Mutter ist tot, na und? Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort, und der Bankräuber wollte gar nicht auf sie schießen, der wollte überhaupt nicht schießen, der hatte vorher noch nie eine Pistole in der Hand gehabt und so weiter. Weiß ja jeder. Ist ja auch Scheiße. Vielleicht kauf ich mir doch noch mal einen Fernseher, damit ich besser einschlafen kann. Ich war die ganze Nacht wach, zum Glück hat die Isa fest geschlafen; ich bin zu ihr ins Zimmer und hab sie angeschaut und gedacht, daß das schön ist, wie sie da liegt und schläft, den Bären im Arm, und daß sie morgen aufwacht, und dann bringe ich sie in die Schule… Und ich denk dann immer, daß das ganze Leben ein Scheißbetrug ist; du gehst in eine Bank, und da ist ein Kerl, der hat sich von einem anderen Kerl am Bahnhof eine Pistole besorgt, für zweihundert Euro, und braucht Geld und geht in die Bank. Da stehen Kunden, und er fuchtelt mit der Waffe rum, und einer der Kunden denkt, heut komm ich ins Fernsehen, und überlegt, ob er noch eine Kassette frei hat. Scheiße, denkt er, muß ich was löschen, scheiß drauf, ich komm ins Fernsehen, weil er ja weiß, daß alles gut ausgeht, ein Bankräuber kommt nie davon, und gleich taucht die Polizei auf, alles gut. Aber der Kerl mit der Pistole hat ein Problem, schwitzt unter seiner Maske, und jemand sagt was, und dann drückt er ab, weil sein Zeigefinger abrutscht, und da stehst du in der Schußlinie, und das war’s. Du kannst nicht mal deiner Tochter auf Wiedersehen sagen und deinem Mann und deinen Freunden. So geht das.«
Fischer wartete, blickte in die Runde, ob jemand etwas erwidern wollte, und nahm das Fax, das vor einer halben Stunde gekommen war. In dem Moment, als er zum Sprechen ansetzte, tauchte Valerie Roland in der Tür auf.
»Der Zeuge ist da«, sagte sie. »Sollen die Kollegen
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