Idylle der Hyänen
freiwillig in eine Höhle gezogen, weg von den Leuten. Muß man verstehen. Schwierige Zeiten damals. Wann war das noch mal?«
»Anfang des sechsten Jahrhunderts«, sagte Fischer.
»Sie haben es drauf! Und er ist auch noch erleuchtet worden in seiner Höhle. Kein Strom, aber erleuchtet.«
»Möchten Sie, daß wir unterbrechen?«
»Wieso denn? Ich komm grad in Schwung.«
»Was hat Ihre Geschichte mit Nele Schubart zu tun?« fragte Fischer.
»Mit wem? Die kenn ich nicht. Ich sprech von der Nonne. Von der Exnonne Ines. Und von Benedikt. Und seiner Schwester. Die hat sich nämlich nicht abwimmeln lassen.«
Er krümmte sich und ächzte, schob wie ein Kind die Unterlippe vor.
»Sie liebte ihren Bruder«, sagte Ines.
»Haben Sie Geschwister?« fragte Flies.
»Solche Fragen beantworte ich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Haben Sie Geschwister?«
»Ja«, sagte Flies und blickte hektisch um sich wie jemand, der verfolgt wird. »Eine Schwester. Ist abgekratzt.«
»Woran ist sie gestorben?«
»Das geht Sie einen Scheiß an.«
»Ist die Frau, die bei Ihnen war, Ines, auch tot?«
Flies hob das Kinn und starrte an Fischer vorbei zum Fenster.
»Ihre Bitte«, sagte Ines, »entsprang nicht Eigennutz oder weibischer Furcht oder einer Launenhaftigkeit. Sondern purer Liebe. Aber ihr Bruder, der kluge, an seine Regeln gekettete Mann, hat nicht verstanden, daß der Moment gekommen ist, in dem er der Liebe jede Vorschrift unterordnen muß. Er bestand darauf, ins Kloster auf dem Berg zurückzukehren. Und Scholastika, die Gott genauso ergeben war wie Benedikt, hat sich an ihren Herrn gewandt und ihm ihr ganzes Sehnen offenbart. Und weißt du, was passiert ist?«
»Und wissen Sie, was passiert ist?« Zum erstenmal sah Flies dem Kommissar ins Gesicht, einige Sekunden lang.
»Ja«, erwiderte Fischer. »Ein Unwetter zog auf, und es fing so stark zu regnen an, daß die Wege überschwemmt wurden und Benedikt nicht ins Kloster zurückkehren konnte.«
»Genau«, sagte Flies. »Glück gehabt, Scholastika! Mein Sehnen ist schon längst verpufft.«
»So kniete er nieder und flehte seine Schwester an.« Ines schlug die Decke ein Stück zurück, um Luft zu bekommen. »›Was hast du getan?‹ fragte er sie, und sie erklärte ihm, daß sie, weil er ihre Bitte ausgeschlagen hatte, Fürsprache bei ihrem Gott gesucht habe. Gott ist die Liebe, sagt Johannes, und im Donner des Unwetters hat Benedikt diese Worte neu verstanden. Seine Schwester lehrte ihn, daß seine Regeln nicht das oberste Gesetz sind, wenn sie sich dem Gebot der Liebe verweigern.«
»Und dann?« Flies faltete wie Fischer die Hände und legte sie auf den Tisch. »Dann ist sie gestorben. Was will der Gott uns damit sagen? Sie müssen es wissen, Mister Fischer. Ich verrat’s Ihnen. Nein, ich verrat’s Ihnen nicht. Doch, ich verrat’s Ihnen.«
Er lehnte sich zurück, legte die Hände in den Schoß und grinste.
»Der heilige Benedikt begriff sofort, daß auch sein Ende unausweichlich war«, sagte Ines. »Er stand am Fenster und hat gebetet. Plötzlich sah er vom Himmel her ein Licht, das immer stärker wurde, bis es das Dunkel der Nacht vertrieben hatte und heller strahlte als das Tageslicht. Und Benedikt erlebte ein Wunder. In einem einzigen Sonnenstrahl hat er die Welt erschaut und die Herrlichkeit erkannt. Papst Gregor schrieb: Für eine Seele, die ihren Schöpfer schaut, ist alle Kreatur beschränkt, mag sie auch nur einen Bruchteil vom Licht ihres Schöpfers sehen, so erscheint alles Geschaffene klein. Das heißt nicht, daß Himmel und Erde sich verkleinern, sondern daß sich die Seele des Sehers weitet. Sie ist in Gott entrückt und sieht ohne Mühe in einem einzigen Moment all das, was niedriger als Gott ist. Und bald darauf starb er.«
»Und wann ist Benedikt gestorben? Wann?«
»Wo ist Ines jetzt?« fragte Fischer.
»Sie sind verbiestert. Sie müssen sich lockern, sonst verstehen Sie nie, was ich Ihnen erzähl.« Er drehte schnell den Kopf und nickte Valerie zu.
»Am einundzwanzigsten März fünfhundertsiebenundvierzig ist der heilige Benedikt gestorben«, sagte Ines leise. »Sein Leichnam wurde im Oratorium Johannes’ des Täufers bestattet, nach dessen Lehre Benedikt sein Leben verbracht hat. Wie Johannes empfand auch Benedikt sich selbst nicht als Meister, vielmehr als Wegbereiter, der um die Größe des ihm Nachfolgenden weiß. Johannes sagt: Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt und der nach mir kommt, ich bin nicht wert, ihm die Schnüre
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