Idylle der Hyänen
seines riesigen Bauches. »Bring mir einen Schnitt, Brumm!« rief Robert Gebirg zum Tresen. »Und dann ist die Brotzeit zu Ende. Für dich auch«, sagte er zu Ines und warf Friede einen schnellen Blick zu, die, seit sie zu dritt am Tisch saßen, noch kein Wort gesprochen hatte.
Nach einem kurzen Schweigen klopfte Robert Gebirg mit seinem Feuerzeug auf den blanken Holztisch und zeigte auf Ines: »Ob das so was wie ein Fluch ist, kann ich dir nicht sagen. Du bist katholisch, du kennst dich mit so was besser aus. Ich nenn es Pech. Beschissen ist, daß du erst neun warst, als sie’s getan hat. Wenn ich an sie denk, und das tu ich jede Nacht, dann sag ich zu ihr: Dir verzeih ich das nicht. Sie ist tot, sie kann mich nicht mehr hören, ich sag’s trotzdem. Du warst erst neun. Hör auf, den Kopf zu schütteln, Friede. Das Kind zurücklassen! Die Familie. Kein Wort! Einen Tag nach ihrem Geburtstag! Wie willst du das nennen, Friede? Bösartig war das, was sie getan hat.«
Friede legte die Hände auf den Tisch, sah weder den Wirt noch Ines an, wartete, bis Brumm das schaumvolle Glas hinstellte. »Sie war krank, das hat Dr. Laurenz eindeutig bestätigt.«
»Bestätigt! Was nützt mir das? Daß Aloisia krank war, hab ich selber gewußt, und sie hat’s auch gewußt!« Er hielt das Glas an den Mund, Schaum quoll über. Dann stellte er es wieder hin, an seinem Kinn hingen Flocken. »Ich war wenigstens schon vierzehn, als mein Vater in die Maibachschlucht gestürzt ist, ich hab besser damit umgehen können als du, Sehnerl. Außerdem hat mein Vater gesoffen, und wenn er zu war, hat er dauernd davon geredet, daß er die Dimension wechseln will. So hat der sich ausgedrückt: Dimension wechseln, darum ging’s für den. Wir haben uns nie verstanden, das weißt du, Sehnerl.«
»Du warst so alt, wie ich jetzt bin, als er gestorben ist«, sagte Ines.
Friede strich ihr über die Hand und hielt sie fest.
»Und wenn wir schon dabei sind!« In einem Zug leerte Gebirg sein Glas, drehte sich nach hinten, doch Brumm stand nicht mehr hinter dem Tresen. »Die Oma von deiner Mutter, weißt du, wie die geheißen hat?«
»Eda.«
»Edeltraut Landauer, und weißt du, was die an einem bestimmten achten September um sechs Uhr in der Früh getan hat? Das, was die um diese Zeit noch nie getan hat: Sie hat gebadet. Nein, Sehnerl, nicht im See wie deine Mutter. Da, wo die Edeltraut gelebt hat, war kein See in der Nähe. In der Badewanne hat sie gebadet! Und ihre Tochter, deine Oma Rosina, hat noch geschlafen.«
»Und der Uropa?« fragte Ines.
»Edas Mann«, sagte Gebirg in ihre Worte hinein. »Der ist aus dem Krieg nicht mehr zurückgekommen, den gab’s nicht mehr, richtig so, Friede?« Ob Friede nickte, wollte Ines nicht sehen, sie schaute nur ihren Vater an. »Sie ließ Wasser in die alte Zinkwanne laufen, legte sich rein und schnitt sich mit dem Brotmesser die Pulsadern auf. Als ihre kleine Tochter sich gewundert hat, wieso in der Küche alles dunkel ist und es nicht wie sonst nach Kaffee riecht, du stammst nämlich aus einer kaffeesüchtigen Familie, Sehnerl, da ist sie ins Bad gegangen, um sich die Zähne zu putzen. Und da lag ihre Mutter im roten Wasser und hat nicht mehr geatmet. So fing der erste Schultag deiner Oma an. Und jetzt sag ich dir noch was: Ich weiß nicht, wie viele in der Familie deiner Mutter noch auf diese Weise die Dimension gewechselt haben, kann ich dir nicht sagen. Mein Vater ist jedenfalls ganz normal verunglückt. Du stammst also nicht nur aus einer kaffeesüchtigen, sondern auch aus einer sichumbringsüchtigen Familie. Also paß auf, was du tust. Verstanden, Sehnerl?«
»Bist du auch dichumbringsüchtig, Papa?«
»Ich sauf bloß zu viel.«
»Hör auf damit!« rief Friede. Mit einer ungestümen Bewegung stand sie auf, griff nach Ines’ leerem Colaglas und drückte es an ihren Bauch. »Und jetzt ist dieses Thema vorbei! Und zwar ein für allemal. Keine Fragen mehr, Ines!« Und zu Robert Gebirg, genauso laut: »Und du kümmerst dich ums Essen und hältst hier keine Reden! Ich mag das nicht, wenn in diesem Haus so geredet wird, Robert. Ich hab gedacht, du wärst wieder einigermaßen im Gleichgewicht. Für Sehnerl waren diese fünf Jahre ja auch eine fürchterliche Zeit. Aber wir können uns nicht hinsetzen und jammern und uns den Kopf darüber zermartern, was früher war und wer was getan hat in dieser Familie. Wir müssen an das denken, was kommt. Das verlangt deine Mama von uns, Sehnerl, die will, daß wir diese
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