Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
und bewusste , das heißt: im Ganzen der literarische Anteil des Autors an der Verarbeitung des Tagtraums bestehen könnte. Auch die biografische Selbsteinschätzung der Tagträumer problematisiert Freud nicht. Es ist für das Auftreten von Tagträumen ein Unterschied, ob ein Erwachsener dazu neigt, sich als Opfer oder als Souverän der eigenen Biografie zu empfinden. Ganz zu schweigen von den Kindern, die ihre Zukunft als Erwachsene antizipieren müssen und deswegen – sozusagen – auf natürliche Weise zu Tagträumen gezwungen sind. Für Freud sind, jedenfalls ihren Voraussetzungen nach, der Tagträumer und der Dichter einander zum Verwechseln ähnliche Persönlichkeiten. Der einzige und entscheidende Unterschied besteht für ihn darin, dass der Schriftsteller seinen Tagtraum aufschreibt. Können wir daraus den Umkehrschluss ziehen, dass wir – sozusagen – auf einen Schlag ein erheblich vergrößertes Literaturaufkommen hätten, wenn auch die bislang nicht schreibenden Tagträumer ihre Phantasien aufschrieben? Diese Erwartung ist bestimmt nicht haltbar, ihre Unmöglichkeit macht uns aber darauf aufmerksam, dass auch mit der Freud-These etwas nicht stimmen kann beziehungsweise: dass sie ihr Thema nicht adäquat und nicht vollständig erfasst. Davon später mehr.
Zunächst will ich auf die zweite starke These Freuds aufmerksam machen, die wir ebenfalls (aber nicht nur dort) im Aufsatz über das Phantasieren finden: »Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische. Beim jungen Weibe herrschen die erotischen Wünsche fast ausschließend (…) beim jungen Manne sind neben den erotischen die eigensüchtigen und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug.«
Auch rund zehn Jahre nach dem Aufsatz über das Phantasieren der Dichter haben sich Freuds Vorstellungen nicht gewandelt. In der 23. Vorlesung zur »Einführung in die Psychoanalyse« aus den Jahren 1916 und 1917 lesen wir über die Tagträume, sie seien »vorgestellte Befriedigungen ehrgeiziger, großsüchtiger, erotischer Wünsche«. Ein prädestinierter Kandidat des Tagträumers ist auch in den Vorlesungen der Künstler. Er »ist im Ansatz auch ein Introvertierter, der es nicht weit zur Neurose hat. Er wird von überstarken Triebbedürfnissen gedrängt, möchte Ehre, Macht, Reichtum, Ruhm und die Liebe der Frauen erwerben; es fehlen ihm aber die Mittel, um diese Befriedigungen zu erreichen. Darum wendet er sich wie ein anderer Unbefriedigter von der Wirklichkeit ab und überträgt all sein Interesse, auch seine Libido, auf die Wunschbildungen seines Phantasielebens (…)«
Trotz seiner Dauernähe zur Neurose und trotz des ebenso permanenten Sublimierungsdrucks ist der Künstler – nach Freud – auf einzigartige Weise privilegiert. Die gleiche Kunst nämlich, die ihn zum Phantasieren nötigt und ihn damit mehr und mehr von der Realität entfernt, die gleiche Kunst also gewährt ihm auch einen »Rückweg (…) zur Realität«. Dieser Rückweg ist ein Ergebnis seiner wachsenden Virtuosität und des Beifalls, der ihm für diese Virtuosität gespendet wird. »Wenn einer ein rechter Künstler ist«, so Freud, »dann verfügt er über mehr. Er versteht es erstens, seine Tagträume so zu bearbeiten, dass sie das allzu Persönliche, welches Fremde abstößt, verlieren und für die anderen mitgenießbar werden. Er weiß sie auch soweit zu mildern, dass sie ihre Herkunft aus den verpönten Quellen nicht leicht verraten. Er besitzt ferner das rätselhafte Vermögen, ein bestimmtes Material zu formen, bis es zum getreuen Ebenbilde seiner Phantasievorstellung geworden ist, und dann weiß er an diese Darstellung seiner unbewussten Phantasie so viel Lustgewinn zu knüpfen, dass durch sie die Verdrängungen wenigstens zeitweilig überwogen und aufgehoben werden.«
Erst in dieser Phase, als prämierter und gepriesener Künstler, gelingt dem phantasierenden Dichter der Rückweg in die Realität, in dem wir nach Freud natürlich wieder nur einen Notausgang sehen dürfen: »Kann er das alles leisten, so ermöglicht er es den anderen, aus den eigenen unzugänglich
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