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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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gewordenen Lustquellen ihres Unbewussten wiederum Trost und Linderung zu schöpfen, gewinnt ihre Dankbarkeit und Bewunderung und hat nun durch seine Phantasie erreicht, was er vorerst nur in seiner Phantasie erreicht hatte: Ehre, Macht und Liebe der Frauen.«
    Es ist diese zärtliche und dann doch rigide Fixierung an seine theoretischen Konstrukte, die Freud in den letzten Jahrzehnten viel Kritik eingebracht haben. Mit ›zärtlich und doch rigide‹ ist eine Stilfigur gemeint, die wir bei Freud oft antreffen. Zunächst räumt er zärtlich (und also nachgiebig) ein, dass seine Konstruktionen nicht mehr seien als Annahmen. Da wir aber gleichzeitig über das unanschauliche Geschehen der psychischen Vorgänge nichts anderes besitzen außer Annahmen, rät er uns dann doch mit der nötigen Rigidität, an seinen Theoriestücken festzuhalten. Wir stoßen uns heute nicht nur an seinen zu umfassend formulierten Programmen; es muss zum Glück niemand mehr den Beweis dafür antreten, dass Künstler außer »Ehre, Macht und Liebe der Frauen« auch andere, gemäßigtere und diskretere Lebensziele verfolgen können. Die Kritik betrifft auch Details der theoretischen Annahmen selbst. Die englische Psychoanalytikerin Hanna Segal zum Beispiel, eine Melanie-Klein-Schülerin, nimmt im Gegensatz zu Freud an, dass der Künstler »in ganz wesentlicher Hinsicht niemals die Realität verlässt«; er arbeitet notwendig mit Symbolen und Phantasien, die aber nicht, so Hanna Segal, im Dienst der Verhüllung eines Unbewussten stehen müssen. Symbole und Phantasien sind nur das Material, mit dessen Hilfe der Tagträumer mit sich selbst kommuniziert.
    Ich zitiere Hanna Segal: »Und dies kann – wie jede andere Form der Kommunikation – nur mit Hilfe von Symbolen geschehen. Bei Leuten, die ›guten Kontakt zu sich selber‹ haben, werden also beständig und ungehindert Symbole gebildet, wobei sie die symbolischen Ausdrucksformen ihrer primitiven Phantasien bewusst wahrnehmen und kontrollieren können (…) Die Fähigkeit, mit Hilfe von Symbolen mit sich selbst zu kommunizieren, ist, so denke ich, die Grundlage verbalen Denkens – also der Fähigkeit, mit sich selbst mit Hilfe von Worten zu kommunizieren. Nicht jede innere Kommunikation besteht aus verbalem Denken, aber jedes verbale Denken stellt eine innere Kommunikation mit Hilfe von Symbolen, nämlich Worten, dar.«
    Ich gestehe gern, dass die Korrektur-Vorschläge, die Hanna Segal an Freuds Tagtraum-Ideen vorbringt, meinen eigenen Vorstellungen vom Tagtraum nahekommen. Vor allem unterstützen sie mich dabei, zwei wichtige Annahmen Freuds außer Acht zu lassen, zum einen die Idee der Wunscherfüllung, ohne die nach Freud kein Tagtraum arbeitet; zum zweiten die Idee der Kompensation beziehungsweise Verschiebung, die, mit Freuds eigenen Worten, so funktioniert: »Eigentlich können wir auf nichts verzichten, wir vertauschen nur eines mit dem anderen; was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine Ersatz- oder Surrogatbildung. So gibt auch der Heranwachsende, wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung an reale Objekte; anstatt zu spielen, phantasiert er jetzt. Er baut sich Luftschlösser, schafft das, was man Tagträume nennt.«
    Um diese Zeilen besser zu verstehen, tauchen wir noch ein wenig tiefer in Freuds Konstruktion des Seelengeschehens ein. Zuerst stoßen wir auf die Annahme, dass wir immer gezwungen sind, unsere frühen Liebesobjekte, vulgo: die Eltern, früher oder später aufgeben zu müssen – und dass wir dabei erfolgreich sein oder auch scheitern können, was nach Freud beinahe immer Neurotiker aus uns macht. Dann stoßen wir auf die zweite Annahme, dass uns der Verlust der ersten Liebesobjekte zwingt, Ersatz- beziehungsweise Surrogatwelten aufzubauen. In unserem Fall handelt es sich um Tagträume, das heißt um Symbolbildungen, die nicht sich selber meinen, sondern eine Art Tarnorganisation dessen sind, was wir unter dem Druck der Lebensnot, sprich: des Erwachsenwerdens, haben aufgeben müssen und gleichzeitig doch nicht recht aufgeben können. Zum Bestand dessen, was wir nach Freud aufgeben müssen, zählt auch das Spiel. Da wir, wenn wir uns für erwachsen halten, nicht mehr spielen dürfen, sind wir aufgefordert, auch für diese Beschäftigung einen Ersatz zu finden, und dieser Ersatz ist das Phantasieren. Wobei wir beachten wollen, dass der Tagtraum bei Freud eine doppelte Funktion hat. Er ist einerseits ein Surrogat (für den Verlust des

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