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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Spielens), und er ist zweitens eine technische Brücke für die Entstehung der Symbole, mit deren Hilfe wir den Verlust unserer ersten Liebesobjekte verwinden, teilweise verwinden oder überhaupt nicht verwinden.
    An diesem Entwurf fällt ins Auge, dass Freud im Tagträumer ausschließlich den Patienten sieht, das heißt den Konfliktträumer, der an gewisse, oft traumatische Erfahrungen fixiert bleibt, die er unbewusst wiederholen muss und für die er symbolische Bilder erfindet – ohne je die Chance zu haben, die Triebkonstellation zu erkennen, die hinter seinen Symbolzwängen steht. Der Dichter ist in dieser Konstruktion nur ein Sonderfall des Patienten. Er unterscheidet sich vom Konfliktträumer nur dadurch, dass er, wenn er Glück, Talent und Geschick hat, aus seinem Tagtraum-Material Literatur machen kann, mit deren Erfolg er dann wieder als virtuos gewordener Neurotiker in die Realität zurückkehrt. Freud war niemals bereit, dem träumenden Dichter, und das heißt: dem Berufsträumer, einen anderen Status einzuräumen als dem Konfliktträumer. Natürlich ist es überhaupt nicht schwer, im übergroßen Archiv der Literaturgeschichte zahllose Fälle zu finden, in denen der Konfliktträumer zugleich ein Dichter ist, mithin Fälle, in denen Freuds Annahmen mehr oder weniger restlos ineinander verschmelzen. Aber dasselbe Archiv der Literaturgeschichte hält auch Dichter bereit, die zum Tagträumen eine andere, nämlich eine Arbeitsbeziehung haben. Wir nennen sie so, weil sich für diese Autoren im Tagtraum eine persönliche Arbeitstechnik herausbildet, die für ihre Produktionsweise spezifisch ist.
    Freud mochte diese Differenz nicht sehen oder nicht anerkennen, weil er zu sehr seinen rigiden Reife-Vorstellungen des menschlichen Werdens verpflichtet war. In seinem überstrengen Verlaufsbild des Reifens ist das Spielen als Tätigkeit der Kindheit und der Jugend zugeordnet. Wer Kindheit und Jugend hinter sich hat, spielt auch nicht mehr, und zwar aus biologischen Gründen, weil er nun ein Erwachsener geworden ist. » Anstatt zu spielen, phantasiert er jetzt«: Mit diesem mechanistisch trennenden Satz (aus dem Aufsatz über das Phantasieren der Dichter) markiert Freud den Übertritt von der einen in die nächstfolgende Phase. Wer diesen Übertritt nicht oder nicht zureichend schafft, taucht unter in den labyrinthischen Selbstverfehlungen der Neurose.
    Die Möglichkeit, dass auch Erwachsene Lust am Spiel haben, ohne dass wir sie deswegen schon der Regression verdächtigen müssen, kommt in Freuds Menschenbild nicht angemessen vor. Das Defizit ist deswegen auffällig, weil das Spielen nicht irgendeine Tätigkeit ist, sondern – mit den Worten von Hans-Georg Gadamer – eine »elementare Funktion des menschlichen Lebens« selbst; es ist nicht akzidentiell, sondern tief in der menschlichen Psyche verankert, weshalb wir seine Energie auch einem Spieltrieb zuschreiben. Natürlich können wir das Rätsel, warum der Triebtheoretiker Freud den Spieltrieb so vernachlässigt hat, nicht aufklären. Wir verkneifen uns auch die Möglichkeit, die Ausblendung des Spieltriebs mit Freuds Triebtheorie selbst zu erklären; danach wäre die Negation des Spieltriebs ein Ergebnis der rastlosen Selbstbestrafung eines Melancholikers, der auf die plötzlich frei werdende Lust am Spiel mit der verdrängenden Konsistenzstrenge seiner Theorie antwortet. Freuds Geringschätzung des Spiels ist auch deswegen auffällig, weil sie ein Licht wirft auf seine Ambivalenz gegenüber der Literatur überhaupt. Freud hat die Literatur nur insoweit geschätzt, als sie der Psychoanalyse im engeren Sinne vorgearbeitet hat. In seinem Essay »Der Wahn und die Träume in Wilhelm Jensens ›Gradiva‹« aus dem Jahr 1907 nennt er die Dichter noch respektvoll »Vorläufer der Wissenschaft« und der »wissenschaftlichen Psychologie«. Sie sind für ihn »wertvolle Bundesgenossen«, und »ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen lässt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.«
    Von dieser Wertschätzung ist rund zehn Jahre später nicht mehr viel übrig. In seinen (schon erwähnten) »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« aus den Jahren 1915 bis 1917 stellt er nicht nur das gesamte Kulturschaffen der Menschen

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