Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
unter Kompensationsverdacht: »Wir glauben«, heißt es in der Einleitung der Vorlesungen, »die Kultur ist unter dem Antrieb der Lebensnot auf Kosten der Triebbefriedigung geschaffen worden, und sie wird zum großen Teil immer wieder von neuem erschaffen, indem der Einzelne, der neu in die menschliche Gemeinschaft eintritt, die Opfer an Triebbefriedigung zu Gunsten des Ganzen wiederholt.«
Nicht nur das große Ganze der Kultur, auch das einzelne Kunstwerk und sein Urheber sind später einer (wieder) rätselhaften Entwertung verfallen. In der 11. Vorlesung lesen wir den Satz: »Die schöpferische Phantasie kann ja überhaupt nichts erfinden, sondern nur einander fremde Bestandteile zusammensetzen.« Noch ein wenig resignativer und auch abschätziger klingen Sätze, die Freud weitere zwanzig Jahre später, in der »Neuen Folge« der Vorlesungen, über die Kunst geäußert hat. Jetzt lesen wir: »Die Kunst ist fast immer harmlos und wohltätig, sie will nichts anderes sein als Illusion. Außer bei wenigen Personen, die, wie man sagt, von der Kunst besessen sind, wagt sie keine Übergriffe ins Reich der Realität.«
Vermutlich ist Freuds melancholische Resignation der Grund für die Ausblendung des Spieltriebs; in dieser Ausblendung dürfen wir ein Motiv dafür sehen, warum ihm eine adäquatere, eine hermeneutisch orientierte Empathie in menschliche Kunstakte oft verschlossen blieb. Wir verstehen dann auch, warum der Spieltrieb in Freuds Triebschema nicht hinreichend berücksichtigt werden konnte. Denn ohne die frei gedachte Regsamkeit des Spieltriebs ist der Tagtraum des Schriftstellers gar nicht zu denken. Der Spieltrieb agiert sich als sich selbst aus und fällt deswegen aus dem Freud’schen Kompensationsschema heraus. Der Spieltrieb muss sich, um zum Ausdruck seiner selbst zu kommen, nicht verstellen, und er muss seinen Auftritt im Bewusstsein des spielenden Träumers nicht unter dem Schutzschild eines Symbols verhüllen. Wir können auch sagen: Das im Tagtraum gefundene Symbol ist bereits das Ergebnis des Spielvermögens des Träumers. Der Tagtraum dient dazu, wie (der schon erwähnte) Hans-Georg Gadamer formuliert hat, dass »ich mir selbst im Spielen wie ein Zuschauer gegenübertrete«. Das ist auch die wesentliche Funktion des Tagtraums. Wir begreifen ihn als eine Form des Spiels mit uns selbst.
Ich erinnere an die Position der englischen Psychoanalytikerin Hanna Segal, für die Tagträume eine Möglichkeit sind, mit Hilfe von Symbolen mit sich selbst zu kommunizieren, und dies besonders für Personen, die einen »guten Kontakt zu sich selbst haben«. Zu diesen Personen gehören zweifellos die Dichter; für sie, die Berufsträumer, fallen Tagträume in zwei Hälften auseinander, zum einen in eine unmittelbar schöpferische, die sie mit neuen Stoffen und Antrieben versorgt, zum zweiten in eine allgemeinere, sie beruflich stabilisierende Hälfte, die ihnen die Gewissheit gibt oder wiedergibt, dass die Ressourcen und Quellen ihrer rätselhaften Existenz zwar nach wie vor uneinsehbar, aber offenbar weiterhin gesichert sind. Der Tagtraum ist für sie ein sprachlich geordnetes, und das heißt: ein wiedererzählbares Zeichen, das ein unablässig sich selbst reproduzierendes Leben über sich selbst erfindet: im Spiel, als Zuschauer seiner selbst. In dem ›sich selbst reproduzierenden Leben‹ können wir die Quelle eines Sinn-Verlangens sehen, das darauf angewiesen bleibt, die eigene innere Bedürftigkeit mit selbst erfundenen Bildern und Worten wenigstens vorübergehend und wenigstens scheinhaft zu stillen.
An dieser umständlichen Beschreibung ist zu erkennen, dass die Tätigkeit des Tagträumens in Wahrheit ein kompliziertes Arbeitsbeschaffungs- und gleichzeitig ein Selbstberuhigungsprogramm ist, das der Autor im Rahmen seiner Professionalisierung mehr und mehr hervorbringt. Wichtig ist, dass der Tagtraum des Berufsträumers in gewisser Weise selbstgenügsam ist; er ist aus dem Arbeitsfeld des Spieltriebs hervorgegangen und wird nun von seinem »Hersteller«, dem Träumer, spielerisch weiterbehandelt. Mit dem von Freud gemeinten Hintergrund des traumatisierten Konfliktträumers überschneidet sich der Arbeits- und Spieltraum des Schriftstellers nur in Ausnahmefällen. Der Autor als Berufsträumer, und diese Formulierung soll besagen: der aus beruflichen Gründen Träumende, ist viel zu stark auf die unmittelbare Materialhaftigkeit dessen angewiesen, was ihm sein geöffnetes Bewusstsein anliefert.
Er kann
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