Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
offenlassen, ob sein Phantasieren der Nachfolger eines einmal kindlich gewesenen und jetzt aufgegebenen Spielens ist oder nicht; er kann offenlassen, ob seine Tagträume nach der Dramaturgie versteckter Wunscherfüllungen funktionieren oder nicht; und er kann offenlassen, ob die konkrete Wortgestalt eines Tagtraums schon eine Symbolisierung ist oder »nur« poetisch inspiriertes Material. Er muss auch nicht wissen, dass bedeutende Kultursoziologen (ich meine Max Weber und Georg Simmel) schon vor mehr als einem Dreivierteljahrhundert entdeckt haben, dass es der Tätigkeit des menschlichen Geistes nicht möglich ist, auf direkte Weise mit sich selbst zu kommunizieren. Das individuelle Bewusstsein muss, um zu sich selbst zu kommen, intentional aus sich selbst heraustreten, um dann über den Umweg einer Beschäftigung mit seinen kulturellen Produkten wieder zu sich zurückkehren.
Anders gesagt: Unser inneres Erleben braucht äußerliche Objekte, an denen und mit denen es sich formen und zum Ausdruck seiner selbst kommen kann. Zu diesen teils innerlichen, teils äußerlichen Gegenständen gehören für den Dichter die Tagträume. Genauer: Sie sind einerseits ein inneres Geschehen, weil sich ihre Wortgestalt im Bewusstsein eines Ichs zusammenstellt, und sie sind andererseits ein äußerliches Szenario, weil der innere Text ohne den Anschub eines in der Außenwelt vorfindlichen Bildauslösers nicht zustande kommt. Wir können auch sagen: Der dichtende Tagträumer macht aus einem äußerlichen Realitätszeichen ein inneres, das sich in zwei Hälften aufspaltet: in ein Erlebnis- und in ein Sprachzeichen. Dann wartet der Träumer ab, ob und wie sein Bewusstsein mit dem nach innen geholten Außenzeichen zu arbeiten beginnt. Ob, mit anderen Worten, sein Vertieftsein in ein Stück Außenrealität zu einem inneren Text führt oder nicht.
Das fortgesetzte Herumspielen des Bewusstseins mit Gegenständen der Außenwelt bringt keine Deutung dieser Gegenstände hervor, sondern eine neue Folgephantasie beziehungsweise ein Geflecht von Phantasien, in dem wir schon die Vorstufe eines Textes oder das Teilstück eines größeren Werkes sehen können. Die Deutung des Tagtraums gehört nicht zu den vordringlichen Interessen des Berufsträumers. Er ist zufrieden mit der Selbstsetzung des Materials in seinem Bewusstsein; allenfalls gibt er sich der Täuschung hin, dass ihm im Spiel eine Teilaufhebung von Arbeit gelungen sei oder gar eine Verwandlung von Arbeit in Spiel. Der dichtende Tagträumer weiß nur selten mit hinreichender Gewissheit, ob er ein praktizierender Phantast oder doch mehr ein phantasierender Praktiker ist. Die Täuschungen über den Status der arbeitenden Phantasie sind unvermeidlich und ihrerseits erneut produktiv. Nur beim Phantasieren selbst erlebt der Träumer die Erlösung von der Deutung des Phantasierens. Wir müssen uns den Schriftsteller als jemand vorstellen, der stets fürchten muss, von seinem Text immer gerade verlassen zu werden. In dieser Furcht begegnet er der Enthüllung, dass ein berufsmäßiger Phantast aus ihm geworden ist. Die Pein über diese Entdeckung wird gebannt, indem sich der Phantast sogleich an den Ergebnissen seines Phantasierens delektiert. Ein berufsmäßiger Phantast hatte er in dieser radikalen, und das heißt: veralltäglichten Form, nie werden wollen. Indem er immer neu die Zumutung zurückweist, ein Phantast zu sein, weist er auch seinen inneren Text zurück, von dem er doch längst lebt. Deswegen ist das berufsmäßige Tagträumen ergiebig und gleichzeitig konfliktreich. Eigentlich hatte der Autor mit der problemlosen Wiederkehr verlässlicher Leistungen gerechnet, er hatte leben wollen wie andere Berufstätige auch. Stattdessen ist ein schreibender Geisterfahrer aus ihm geworden, der immer besser lernt, von seinen Irritationen nur die brauchbaren zu verwenden und von den übrigen zu schweigen. Die prinzipielle Unübersichtlichkeit des Berufs führt bei vielen Autoren, oft sogar bei den besten (denken wir an Kafka, Musil, Beckett), zu dem niederschmetternden Arbeitsunfall, dass die Nichtdisziplinierbarkeit des Schreibens zum vorzeitigen Ende des Schreibens führt.
Wie jeder andere Schreck lässt sich auch der Schreck, ein Phantast zu sein, nicht hinreichend formulieren. Die Botschaft, die er mit sich führt – es kann, vielleicht sogar heute!, mit dir zu Ende sein –, überführt den Tagtraum in eine Form, die ihn erträglich macht, indem sie ihn zum Teil auflöst, zum Teil
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