Ihr Freund, der Ghoul
getrennt. Martha Bennetts Grab lag auf dem alten, wo die Gräber noch breiter und länger waren sowie als Schmuckstücke prunkvolle Grabsteine besaßen. Im Laufe der Zeit waren die Wege fast zugewachsen. Menschen waren bei diesem Wetter so gut wie nicht unterwegs. Ein grauer, nasskalter Morgen lag über London. Manchmal fiel auch dünner Regen, dann wiederum riss der Wind Lücken in die graue Masse. Eve Bennett war für diese Temperaturen zu dünn angezogen. Doch sie spürte die Kälte nicht. Nahezu beschwingt ging sie ihren Weg, gefolgt von dem Ghoul.
Der Pfad lief in normaler Breite weiter, sie aber musste links ab, um zu den Gräbern zu gelangen, die keine großen, teuren Grabsteine besaßen. Dort waren die nicht begüterten Menschen beerdigt worden, zu denen auch Martha Bennett gezählt hatte. Verscharrt hat man sie, dachte ihre Tochter, aber das bekommen sie zurück. Sie sollen es büßen. In der Ferne bimmelte dünn die Totenglocke der Kapelle. Auf den neuen Teil des Friedhofs fand wieder ein Begräbnis statt. Darum brauchten sie sich nicht zu kümmern. Ihr Weg führte auf einen grauen Totenacker. Die meisten Gräber waren nicht mehr zu erkennen. Eingefallen, abgesackt, manche begradigt, andere wiederum noch erhalten und geschmückt.
Martha Bennetts letzte Ruhestätte gehörte zu den gepflegten. Immer wenn Eve Zeit fand, hatte sie das Grab besucht und an ihre Mutter gedacht. Manchmal kam es ihr auch vor, als würde sie noch leben. In einsamen Minuten, wenn der Wind durch die Kronen der Bäume strich und das rauhe Gras kämmte, glaubte sie, aus seinem Säuseln die Stimme der Mutter zu hören. Sie schien ihr Mut zuzusprechen. Über einen weichen Boden schritten sie, Gras, Moos und Flechten hatten die Wege im Laufe der Zeit zuwuchern lassen. Die Bäume standen als stumme Wächter mit ihren kahlen Armen auf dem Gelände. Der kühle Wind trieb ihnen entgegen. Er brachte den Geruch des allmählich verfaulenden Laubs mit sich, aber er konnte den Pestgestank des Ghouls nicht überdecken.
Es war ein ödes, leer wirkendes Gebiet. Niemand besuchte die Gräber, sie lagen verlassen da. Hier konnte der Begriff Ewige Ruhe wörtlich genommen werden.
Das Mädchen wandte sich nach rechts. Eve wusste sehr gut Bescheid. Sie schritt über zwei Gräber hinweg. Ihre Füße knickten Tannengrün und Winterblumen, bis sie in den Winkel des Gräberfeldes geriet, wo ihre Mutter in der Erde lag. Am Fußende des Grabs blieb sie stehen. Früher hatte sie noch immer Tränen vergießen können, das geschah heute nicht mehr. Ihr Gesicht hatte einen sehr harten, entschlossenen Ausdruck angenommen. Sie streckte ihren Arm aus, und der Zeigefinger wies auf den rechteckigen Ausschnitt im Boden, der die Umrisse des Grabs nachzeichnete.
»Ich habe das Versprechen eingelöst, Mutter. Du wirst zufrieden sein. Wo immer sich dein Geist jetzt befindet, ich hoffe, dass du auf uns herabschaust und erkennst, dass wir dein Versprechen eingelöst haben. Ich habe ihn gefunden. Er war dein Freund, jetzt ist er mein Begleiter geworden.« Sie spreizte den linken Arm ab.
Der Ghoul verstand die Geste. Er legte seine schleimige Pranke in die ihre.
So standen sie vor dem Grab. Sie gedachten der Toten, doch ihre Gedanken waren anders als die eines normalen Menschen. Sie beschäftigten sich mit der Rache, dem Hass und einer dämonischen Vergeltung.
»Mutter, ich habe ihn hervorgeholt. Er wird mich vor unseren Feinden schützen, die es schon gibt. Ich habe auf dem Weg hierher seine Gedanken empfangen können. Er hat mir von jemandem berichtet, der uns gefährlich werden kann. Ihn werde ich mir holen. Ihn und auch andere. Du wirst mit uns zufrieden sein, und ich werde dir für eine gewisse Zeit den zurückgeben, der einmal auch dein Freund gewesen ist. Wo wäre er besser aufgehoben als bei dir?«
Nach diesen Worten löste sie ihre Hand aus der schleimigen Pranke des Ghouls. Zu sprechen brauchte sie nicht mehr. Der Ghoul wusste Bescheid. Er schob sich an ihr vorbei und stellte sich auf die Grabmitte. Eve Bennett schaute ihn an. In den letzten Minuten hatte er sich verändert. Nicht von seinem Körperbau her, mehr von der Farbe. Das Grün war zurückgetreten und durchsichtiger geworden. Dafür hatten sich gelbe Farbnuancen ausgebreitet, und auch ein helles Weiß lag dazwischen, so dass es so wirkte wie lange Schlieren.
»Geh zu ihr!« forderte Eve ihn noch einmal auf. »Ich werde noch einen Besuch machen…«
Der Ghoul gehorchte. Eve wurde Zeuge seiner
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