Ihr letzter Tanz
ursprünglich nicht zum Studio gehört hatte. Genutzt wurde er von allen drei Parteien des Gebäudes. Das Tanzstudio benötigte den Raum, um Geschäftsunterlagen und andere Dinge unterzubringen, Katarina brauchte einen Teil der Fläche für einige ihrer Schneiderpuppen und für ihre Stoffe. Der Club verfügte zwar im Erdgeschoss über einen viel größeren Lagerraum, doch hin und wieder kam es vor, dass Lopez auch einen Teil dieses Raums in Anspruch nahm. Bis zum heutigen Tag hatte es noch nie Streit darüber gegeben, wer was in dem Lagerraum unterbrachte.
Auf der anderen Seite des Hofes führte eine Treppe hinauf in das komplett renovierte dritte Stockwerk. Lange Zeit war diese Fläche ungenutzt geblieben, doch nachdem Gabriel Lopez von den Eigentümern des Gebäudes die Erlaubnis bekommen hatte, war der dritte Stock ausgebaut und in ein Apartment umgewandelt worden. Er und Gordon machten über dieses atemberaubende Apartment immer wieder ihre Witze, weil Shannons Chef keinen Hehl daraus machte, wie eifersüchtig er auf Lopez war. Er wünschte sich, er wäre auf diese Idee gekommen. So aber wohnte er nach wie vor ein ganzes Stück weit vom Studio entfernt – und das, obwohl er es hasste, mit dem Auto zu fahren.
Shannon kannte das Gebäude in- und auswendig – genau das war der Grund, warum sie am Abend zuvor auch so nervös geworden war …
Keiner der Schüler war mehr anwesend gewesen, und die Stereoanlage lief längst nicht mehr. Shannon hatte allein in ihrem Büro gesessen und war die Unterlagen durchgegangen. Jeder der Lehrer strengte sich nach Kräften an, seine jeweiligen Schüler ans Studio zu binden, damit sie regelmäßig kamen. Immerhin sorgten sie für den Lebensunterhalt der Angestellten der Tanzschule. Shannon wusste, dass sie einen hervorragenden Mitarbeiterstab besaß – allesamt Profis, die ernsthaft entschlossen waren, Tanzunterricht zu erteilen und den Kunden etwas für ihr Geld zu bieten. Wenn aber der Fall eintrat, dass ein Schüler, der über lange Zeit konstant ins Studio kam, mit einem Mal fernblieb, dann stimmte etwas nicht. Als Managerin gehörte es zu ihren Aufgaben, denjenigen anzurufen und herauszufinden, ob irgendetwas im Studio vorgefallen war.
Nach Laras Tod wurde es nun für Shannon ebenfalls erforderlich, die Schüler anzurufen, die von Lara unterrichtet worden waren, und ihnen zu versichern, dass sie auch in Zukunft die bestmögliche Betreuung erhalten würden.
Shannon saß da und studierte die Unterlagen, um festzustellen, wer zu denjenigen gehörte, die davon überzeugt werden mussten, nicht das Studio zu wechseln.
Obwohl das Gebäude alt war, hatten die Eigentümer es stets gut in Schuss gehalten. Die Schallisolierung war so gut, dass vom Club im Erdgeschoss nie ein Ton zu hören war. Und wenn die Fenster geschlossen waren, konnte man vom Lärm auf der Straße ebenfalls nichts wahrnehmen.
Daher war es so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Shannon genoss die Ruhe, weil sie es ihr erlaubte, konzentriert zu arbeiten.
Doch plötzlich war da dieses Geräusch.
Ein … Kratzen.
Es schien aus dem Studio selbst zu kommen. Aber das war unmöglich.
Das Geräusch war nur kurz zu hören gewesen. Es klang, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel kratzen – ein unheimliches, durchdringendes Geräusch. Und dann war es auch schon wieder vorüber. So schnell, dass sie fast – aber auch nur fast – geglaubt hätte, es sich nur einzubilden.
In ihrer Panik war sie aufgesprungen und hatte dabei die Unterlagen vom Schreibtisch gerissen, nur um schnell genug aus ihrem Büro zu stürmen. Vielleicht hatte Gordon nicht abgeschlossen, als er gegangen war. Oder er war der Ansicht gewesen, er müsse nicht abschließen, da sie ohnehin jeden Augenblick das Studio verlassen würde.
Die Tanzfläche war leer, und die Eingangstür zum Studio war abgeschlossen. Eigentlich hätte sie durch alle Zimmer gehen müssen, um überall nach dem Rechten zu sehen. Doch sie hatte es nicht gemacht. Aus einem unerklärlichen Grund hatten das Geräusch und die sich anschließende völlige Stille sie so geängstigt, dass sie nur ihre Handtasche und ihr dünne Jacke greifen und aus dem Studio eilen konnte. Warum das Geräusch ihr das Gefühl gab, sich in unmittelbarer Gefahr zu befinden, wusste sie nicht. Und doch hätte sie vor Angst fast vergessen, das Studio abzuschließen, so dass sie sich noch einmal zwingen musste, nach oben zu gehen. Es war einfach
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