Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
verschwunden.
Sonnenschein stach in biblischen Lichtstrahlen durch die Bäume, machte die Schatten noch dunkler und verwandelte das Licht in Muster, die Gesichter auf die Rinde malten.
Er sah auf die Uhr. Fünfzehn Minuten. Erst! Die Uhr war Schrott. Sein Vater hatte sie als Gratisdreingabe für zwanzig Liter Benzin bekommen. Bestimmt ging sie falsch. Bestimmt war Davey jetzt an der Reihe.
Er hantierte mit den Schaltern am Armaturenbrett herum. Das Klicken der Hebel für Blinker und Scheibenwischer klang viel zu laut – als könnte es die falsche Sorte Aufmerksamkeit erregen –, also hörte er auf, und abermals herrschte dichte Stille um ihn herum.
Allmählich bekam Shane richtig Angst. Er wusste, dass es seine Aufgabe war, dazusitzen und zu warten und den Kidnapper kommen zu lassen. Das verstand er. Aber er konnte einfach nicht. Nicht wenn sich dieser Schatten hinter der dicken Buche regte.
Er sog den Atem ein und hörte ein Rascheln im Wald. Ein richtiges Rascheln diesmal – das deutliche Geräusch von jemandem, der sich auf ihn zubewegte. Oder von ihm weg. Es war schwer zu sagen. Das Geräusch kam aus der Richtung, in die Davey …
Shane ließ die Luft entweichen und lachte vor Erleichterung laut auf. Schei-ße! Das war Davey. Er kam, um den Köderjob zu übernehmen. Er wusste doch, dass seine Uhr nicht richtig ging. Wieder lachte er laut heraus.
»Hey, Davey! Du hörst dich an wie ’n Nilpferd!«
Davey blieb stehen.
»Komm schon, du Wichser. Du bist dran!« Shane zerrte zweimal heftig an der Schnur und fühlte Davey am anderen Ende.
Ein Zweig knackte hinter der Buche, und Shane kletterte Hals über Kopf aus dem Auto. Jetzt ist Schicht im Schacht, wie er seinen Vater einmal hatte sagen hören. Seine Schicht war zu Ende, und jetzt war Davey dran, der Köder zu sein. Mal sehen, wie er das fand, dazusitzen und darauf zu warten, dass ihn sich ein Perverser krallte.
Shane hastete durch das Farnkraut und über umgekippte Stämme auf Davey zu, wickelte dabei die Schnur auf und schielte nervös zu der dicken Buche zurück, froh, sie auf der Lichtung hinter sich zu lassen. Der Mazda verschwand hinter ihm.
»Davey, du Wichse r !« Wie weit war der denn verdammt noch mal gegangen? Auf keinen Fall hätte er es rechtzeitig zum Auto zurückgeschafft, wenn Shane wirklich von dem Kidnapper überfallen worden wäre. Auf keinen verschissenen Fall! Er wäre ganz auf sich allein gestellt gewesen. Bei diesem Gedanken wurde Shane so wütend, dass er beim Schnuraufwickeln genau wusste, dass er Davey nach Strich und Faden verdreschen würde, wenn er ihn sah. Scheiß auf die Belohnung. Er hatte es satt, immer derjenige zu sein, der die Drecksarbeit machte.
»Davey!«
Keine Antwort.
»Das ist nicht witzig, du Sackgesicht!«
Shane blieb wie angewurzelt stehen und furchte die Stirn. Ihm war die Schnur ausgegangen. Seine Finger folgten ihr bis zu der Stelle, wo sie mehrmals um den Ast eines Birkenschösslings gewickelt war, und dann das letzte Stück bis zum Rest der Spule hinunter, die am Fuß des Bäumchens lag. Shane hob sie auf.
Darunter lag ein viereckiger gelber Zettel.
Steven sah gerade zu, wie Ems Herz wie ein unter der blassen Haut ihrer linken Brust gefangener Schmetterling flatterte, als Shane durch die Zimmertür gestürmt kam.
Zuerst konnten sie ihn nicht verstehen. Er war so hysterisch und außer Atem, und sie waren so verlegen und so sauer. Noch während Shane faselte und an einer grünen Schnur zerrte, die um sein Handgelenk geknotet war, war Steven sich der Tatsache bewusst, dass Em die Füße wieder in ihre Türkissandalen schob und ihre vollkommenen Brüste jetzt wieder unter dem weißen Top verborgen waren. Unter ihrem Top, wo seine Hände gerade gewesen waren …
Aber als sie schließlich doch verstanden, was er sagte, war Steven sich ziemlich sicher, dass er sich noch nie so schnell bewegt hatte. Er rannte bereits, noch ehe er die Füße richtig in seine noch immer zugeschnürten Turnschuhe gerammt hatte. Ems Hand war in seiner, daher konnte sie mithalten, doch er hätte auch ihren Pferdeanhänger den Hügel hinaufziehen können und wäre nicht langsamer gewesen. Jedes Mal, wenn Shane schlappmachen wollte, schubste Steven ihn zwischen den Schulterblättern oder am Hinterkopf.
»Lauf!«, schrie er. »Lauf weiter!«
Am Rose Cottage blieb Em mit einem Ruck stehen, und ihre Hände rissen auseinander.
»Die Polizei!«, keuchte sie.
»Nein!«, schrie Steven.
»Steven! Sei doch nicht so blö d !«
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