Ihr Pferd ist tot - Steigen Sie ab
Vorstellungs- und Kundengespräch schnell merken, dass wir nicht hinter dem stehen, was wir können und anbieten. Oder würden Sie ein Auto von jemandem kaufen, von dem Sie den Eindruck haben, dass er selbst von der Kiste nicht sonderlich begeistert ist?
Arbeite ich mit einem Menschen an seiner beruflichen Neuorientierung, gehört dazu natürlich immer auch ein sehr genauer Blick auf seine Fähigkeiten. Wir prüfen, welche besonderen Stärken er hat, wofür er besonders geeignet ist und was für eine gewünschte Tätigkeit noch fehlt und erworben werden muss. Den meisten fällt das allerdings ziemlich schwer. Frage ich, was mein Gegenüber denn gut kann, höre ich nicht selten zuerst: »So richtig gut kann ich eigentlich nur sehr wenig.« Hake ich nach, werden entweder nur recht allgemeine Fähigkeiten benannt (»Ich bin ziemlich flexibel und ehrgeizig.«) oder sehr spezifische (»Ich beherrsche Excel, Powerpoint und spreche Englisch.«). Oder eine direkte Antwort wird vermieden, indem er berichtet, was er
tut
, nicht was er
kann
.
Warum tun sich viele von uns so schwer mit dem, was sie können? Warum ist es uns manchmal peinlich, unsere Fähigkeiten und Stärken zu benennen? Selbst in Bewerbungen formulieren viele ihre Kompetenzen so unpersönlich und pauschal, als hätten sie gar nichts mit ihnen |174| zu tun – als sei dies nur eine unappetitliche Formalität, die eben abgehakt werden muss.
Kompetenzprofil und Selbstbild
Wie steht’s mit Ihnen? Wenn Sie glauben, etwas überdurchschnittlich gut zu können – fällt es Ihnen leicht, das auch zu sagen und zu vertreten? Oder ist Ihnen der Gedanke daran schon unangenehm? Denken Sie womöglich, dass es gar nichts gibt, das Sie überdurchschnittlich gut können? Neigen Sie dazu, Ihr Licht unter den Scheffel zu stellen? Dann sollten Sie unbedingt ein möglichst detailliertes Kompetenzprofil erstellen! Wie das geht, erfahren Sie im Folgenden.
»Ich kann doch nur, was ich tue.«
Ina hatte ihre berufliche Laufbahn als Hilfskraft im Büro begonnen und sich zur Sekretärin und Assistentin entwickelt. Nach fünfzehn Jahren in verschiedenen Unternehmen wollte sie sich jetzt von der Büroarbeit lösen und sich möglichst im psychosozialen Bereich betätigen. Ich bat Ina, ihr Kompetenzprofil zu erstellen. Sie kam zur nächsten Stunde mit einer sehr detaillierten Aufstellung, die mir allerdings recht einseitig schien, weil dort nur typische Bürotätigkeiten und -kenntnisse aufgeführt waren. Nein, mehr könne sie nicht, sagte mir Ina, als ich Zweifel anmeldete.
Nach vielem Bohren und Nachhaken entstand aber ein viel komplexeres
Bild: Ina verfügte nämlich über viele soziale und psychologische Kompetenzen, eine gute Intuition, ein schnelles Verständnis für soziale Systeme – außerdem konnte sie zum Beispiel sehr professionell präsentieren. Zum Teil beruhte das auf Talent, sie hatte aber auch privat und beruflich an zahlreichen Kursen und Fortbildungen teilgenommen. Darüber hinaus hatte sie in ihrem Job vieles gelernt, was nicht zum klassischen Profil einer Assistentin gehörte. Als sie schließlich ihr vollständiges Fähigkeitenprofil erarbeitet hatte, war sie erstaunt darüber, über wie viele Fähigkeiten sie tatsächlich verfügte!
|175| Diese Erfahrung mache ich häufig: Wenn Menschen über lange Zeit dieselbe Tätigkeit ausüben, reduziert sich ihr Selbstbild immer mehr. Sie glauben dann, dass sie nur über solche Fähigkeiten verfügen, die sie täglich anwenden. Und auch dabei sehen viele nur ihre Hard Skills, also die sachbezogenen Fertigkeiten, und unterschätzen ihre Soft Skills, nämlich ihre kommunikativen und sozialen Fähigkeiten. Was oft völlig übersehen wird, sind Fähigkeiten, die im Privatleben gelernt wurden oder einfach »Teil der persönlichen Ausrüstung« sind. So sind zum Beispiel ein gutes Einfühlungsvermögen, die Gabe, Menschen zu motivieren und zu führen, räumliches Vorstellungsvermögen oder Überzeugungskraft wichtige Fähigkeiten, die selten benannt werden.
Es ist leider ein verbreiteter Irrtum, dass nur, was in unserem Arbeitszeugnis steht, auch nennenswerte Fähigkeiten sind. Wir Deutschen scheinen immer noch davon überzeugt zu sein, dass wir nur können dürfen, was uns jemand bescheinigt und zertifiziert hat. Und dann denken wir: Ich kann nur, was ich bin. So war Ina erst davon überzeugt, nur das zu können, was eine Sekretärin nun einmal kann. Natürlich sind ein Bachelor, Master, Meister oder eine Promotion nicht
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