Ihr stolzer Sklave
Stärke. Ein heftiges Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie war so enttäuscht von ihrer Mutter. Und von sich selbst, weil sie die Wahrheit nicht früher erkannt hatte.
Kieran streckte die Hand aus und wischte ihre Tränen fort. Dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände. „Es tut mir so leid, dass ich dir solch einen Schmerz bereiten musste, a mhuirnín .“
„Du kannst dir nicht vorstellen, was es heißt, ein Kind zu verlieren“, sagte sie anklagend und entzog sich seiner Umarmung. Nichts ließ sich mit dem bitteren Verlust noch mit der gähnenden Leere in ihr vergleichen.
„Ich weiß, was es heißt, einen Bruder zu verlieren. Einen Bruder, den ich hätte beschützen sollen.“
Das war ganz und gar nicht das Gleiche. Und doch hatte er gerade zum ersten Mal etwas aus seiner Vergangenheit preisgegeben. Als er sich abwandte, konnte sie die bleierne Schwere in seiner Stimme spüren und sein Widerstreben, über das Geschehene zu sprechen. Iseult setzte sich nieder und zog die Knie an, während er sich einen Becher Met nahm. „Was geschah mit deinem Bruder?“
Kieran trank, als wollte er aus dem Becher Kraft schöpfen. „Es war im letzten Winter. Unsere Ernte war schlecht ausgefallen, und es gab nicht genug Nahrung für alle. So verhungerten viele.“
Er streckte ihr die Hand hin, und Iseult ergriff sie. Die Wärme seiner Hand tat ihr gut und bot ihr Trost, als er jetzt über sein eigenes Leid sprach. „Wir konnten diejenigen, die starben, nicht beerdigen. Der Boden war gefroren.“ Er senkte den Blick. „Wir verloren letzten Winter vier Männer, acht Frauen und sieben Kinder.“
Sie rutschte näher und lehnte sich an ihn. „Was war mit deiner eigenen Familie?“
„Wie alle anderen hatten auch wir nur wenig zu essen. Manchmal gab ich meinen Anteil meinen Schwestern oder Egan, meinem Bruder. Sie waren jünger. Und nicht so stark. Dann kamen die Plünderer, Lochlannachs. Sie waren wie jene, gegen die wir kämpften. Sie stahlen unsere Vorräte, unser Korn und setzten unsere Hütten in Brand. Ich kämpfte Seite an Seite mit meinem Vater und meinen Verwandten. Aber wir besaßen nicht die Kraft, sie aufzuhalten.“
„Starb dein Bruder Egan in der Schlacht?“
Kieran machte ein ernstes Gesicht. „Ich wünschte, er wäre es. Es wäre gnädiger gewesen.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie nahmen ihn gefangen, zusammen mit meinen Schwestern und einigen anderen. Ich denke, sie wollten sie als Sklaven verkaufen oder als Geiseln behalten.“ Gedankenverloren strich er ihr durchs Haar. „Ich kämpfte um meine Schwestern und rettete sie vor der Gefangenschaft, doch mit Egan zogen die Plünderer davon.“
Er ließ die Hand auf ihrem Nacken ruhen. Seine Haut schien die ihre in Flammen zu setzen und weckte Gefühle in Iseult, die sie lieber verleugnet hätte.
„Ich folgte ihnen bis in ihr Lager, allein. Ich bot ihnen an, dass sie mich nehmen und in die Sklaverei verkaufen sollten statt meines Bruders – und glaubte, sie würden Egan dann gehen lassen.“ Er hob die Schultern. „Ich war so dumm anzunehmen, sie würden in meinen Handel einwilligen. War so arrogant, dass ich meine Kampfkraft für wertvoller hielt als das Leben meines Bruders.“ Er begegnete ihrem Blick mit solcher Wut und solchem Schmerz, dass Iseult am liebsten um ihn geweint hätte.
„Was machten sie mit ihm?“
Er stieß ein spöttisches Lachen aus. „Nach außen hin ließen sie sich auf meinen Handel ein. Und als sie sich daranmachten, ihm die Stricke durchzuschneiden, schlitzten sie ihm stattdessen die Kehle auf. Ich sah ihn vor meinen Augen sterben. Als Preis für uns beide schickten sie meinem Vater einen Sack voll Getreide.“
Iseult konnte sich solch einen Horror nicht vorstellen. Aber sie fühlte, dass Kierans Schmerz so tief war wie der ihre. Fast hätte sie gesagt: Es war nicht deine Schuld. Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Sie wusste, dass er an seine Schuld glaubte, wie sie glaubte, verantwortlich dafür zu sein, dass sie Aidan nicht beschützt hatte.
„Es tut mir so leid.“ Sie bot ihm den besten Trost an, den sie kannte. Sie legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn.
Er erwiderte den Kuss. Sein Mund senkte sich sanft auf den ihren. Das war keine verbotene, wilde Umarmung mehr. Stattdessen linderte seine Berührung ihr Leid. Seine Zärtlichkeit rührte sie auf eine nie gekannte Weise.
Ohne den Kuss zu unterbrechen, zog Kieran sie hoch, sodass sie vor ihm
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