Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Ahnung«, sagte plötzlich die Stimme eines kleinen Mädchens. Zart und hoch. » Ich hab die beiden noch nie zuvor gesehen. Meinst du, sie sind hier, um uns endlich freizulassen?«
Inga Jäger schaute sich unwillkürlich im Rest der Zelle um, um herauszufinden, wer da gesprochen hatte, doch da merkte sie, dass es wieder die Lippen des Patienten waren, die sich bewegt hatten. Es war Christoph, der gesprochen hatte; aber diesmal mit einer Stimme, die anders als die männliche nie einen Stimmbruch durchgemacht hatte.
Sie klang auch überhaupt nicht so, als würde ein Mann mit Fistelstimme versuchen, wie ein Mädchen zu sprechen. Es war die Stimme eines Mädchens.
» Ich fürchte nein, Mona«, sagte Christoph– jetzt wieder tief und resonant. » Der Professor und auch der vor ihm haben schon oft genug gesagt, dass sie uns nie wieder freilassen werden; das weißt du doch.«
» Ja«, sagte die Mädchenstimme. » Aber sie haben auch gesagt, dass sie uns helfen wollen.«
» Das war, ehe du dem Wärter die Kehle durchgebissen hast«, gab Christoph zu bedenken.
» Das musste ich tun«, verteidigte sich Mona, das Mädchen. » Er hat dich angefasst– wie Opa dich immer angefasst hat.«
» Sie haben gesagt, er wollte mich nur waschen.«
» Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. » Du hast seine Augen gesehen.«
» Vielleicht hätte es gereicht, wenn ich ihn weggeschubst hätte«, überlegte der Mann.
» Das hast du versucht. Das hat bei Opa auch nie geholfen. Ich musste etwas tun. Sonst wären wir gestorben. Wie die anderen Kinder.«
» Welche anderen Kinder?«, fragte Inga Jäger unwillkürlich.
Christoph schaute sie an, legte den Kopf auf die Seite und sah jetzt tatsächlich aus wie ein kleines Mädchen. » Na, die anderen Kinder, die hier alle gestorben sind«, sagte sie. » Frag doch ihn.« Er deutete mit seinem schlanken Zeigefinger auf Professor Götz.
Inga sah den Klinikleiter neugierig an.
Doch der schüttelte den Kopf und flüsterte: » Alles nur in seiner Vorstellung.«
Der Mann hinter den Gittern runzelte mürrisch die ansonsten glatte Stirn und bedachte Professor Götz mit einem zynischen Blick.
» Kannst du sie denn nicht schreien hören?«, fragte er Inga Jäger. Dabei hob er den Finger hinter das Ohr, wie um zu lauschen.
Instinktiv war Inga Jäger versucht, ebenfalls zu lauschen, verwarf den Impuls dann aber sofort wieder. Sie hörte nichts– und sie war sich auch ziemlich sicher, dass es nichts zu hören gab.
» Niemand kann sie hören«, sagte Mona, und sie klang frustriert. » Dabei schreien sie so laut.«
Das reichte. Viel mehr konnte Inga Jäger nicht ertragen. » Und er ist ganz sicher niemals ausgebrochen?«, fragte sie den Anstaltsleiter.
» Definitiv nicht«, erwiderte er.
» Dann sind wir hier fertig«, sagte sie und wandte sich ab, während Professor Götz sich daranmachte, die Tür vor dem Gitter zu schließen.
» Hört doch hin«, kreischte Mona plötzlich hysterisch. » Hört doch, wie sie schreien! Warum hilft ihnen denn niemand?«
36
» Hat Christoph auf irgendwelche Weise Kontakt nach außen? Besuch, Briefkorrespondenz oder Internet?«, fragte Inga Jäger, als Götz, Gebert und sie die gewundene Treppe wieder nach oben stiegen. Sie war zutiefst irritiert von dem, was sie gerade erlebt hatte, und konnte an Geberts Gesichtsausdruck erkennen, dass die Begegnung auch ihn verstört hatte.
» Nein«, antwortete Götz. » Und soweit ich informiert bin, gibt es auch keine lebenden Verwandten mehr.«
» Irgendeine andere Möglichkeit, dass er mit der Außenwelt in Verbindung tritt?«
» Die einzigen Menschen, die er zu Gesicht bekommt, sind die Wärter und ich.«
» Verfügt er vielleicht über besondere manipulative Fähigkeiten?«, fragte sie weiter. » Ich meine, könnte er einen dritten, also vielleicht einen der Wärter, dazu veranlassen, außerhalb der Anstalt etwas für ihn zu erledigen – vielleicht sogar in seinem Auftrag ein Verbrechen zu begehen?«
» Nein«, erwiderte Professor Götz. » Um ein solches Szenario zu vermeiden, sind sämtliche Mitglieder der Wachmannschaft ausdrücklich angehalten, nicht mit den Patienten zu kommunizieren.«
» Man kann nicht nicht k…«
» …kommunizieren«, ergänzte der Professor ihren Einwand. » Ich weiß. Aber vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Die Wärter reden nicht mit den Patienten, sie maßregeln sie nicht, sie passen nur auf sie auf und achten darauf, dass sie sich nicht
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