Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
könne sich beim Basteln wehtun, so lange einredet, er habe kein handwerkliches Geschick, dass er am Ende tatsächlich keines mehr hat und das Interesse am Basteln verliert. Ich kenne die Kritiken, Frau Jäger, und sie haben mit Sicherheit auch ihre Existenzberechtigung. Aber deswegen darf man nicht gleich pauschal behaupten, alle Persönlichkeitsspaltungen und-störungen wären therapieinduziert oder suggeriert. Korrekter ist es, gerade auf Basis der von Ihnen geäußerten Kritik zu erkennen, wie anfällig das menschliche Bewusstsein für eine solche Spaltung ist, und zu akzeptieren, dass sie eben durchaus– wie in den meisten Fällen– durch echte Missbrauchserfahrungen entstehen kann. Wie im Fall des Mannes, den wir jetzt aufsuchen.«
» Was ist ihm passiert?«
» Christoph wurde als Kind auf einem abgelegenen Gutshof von seinem Großvater, einem spät aus Sibirien heimgekehrten Kriegsgefangenen, auf grausame Weise misshandelt und beinahe täglich missbraucht.«
» Furchtbar«, sagte Gebert.
» Ja«, stimmte der Professor ihm zu. » In der Folge entwickelte er zu seinem Schutz eine zweite Persönlichkeit, die eines kleinen Mädchens namens Mona, weil er instinktiv die Homosexualität des Großvaters erkannte und hoffte, als Mädchen sicher vor ihm zu sein. Aber das ging schrecklich nach hinten los, wenn Sie mir den etwas ungeschickten Ausdruck verzeihen, und reizte den Großvater noch mehr, sodass er in der Folge seine kranken Neigungen in den nächsten drei Jahren mit beiden abwechselnd auslebte. Derart in die Enge getrieben, haben die beiden Persönlichkeiten, die des Knaben und die des Mädchens, die jede für sich fürchterliche Angst vor dem Großvater hatten, sich schließlich zusammengetan und in dem verzerrten Bewusstsein, zu zweit stärker zu sein, dem Schrecken ein Ende bereitet, indem sie ihren Übeltäter nachts mit zwei Fleischermessern überfielen und ihn im Schlaf abschlachteten. Als seine respektive ihre Mutter von dem Lärm wach wurde, haben sie auch sie getötet, weil sie ihr die Schuld gaben, sie nicht vor dem Großvater beschützt zu haben. Dabei war die arme Frau selbst ein Opfer des Missbrauchs ihres Vaters– und der Sohn das gemeinsame Kind, wie wir später durch DNA -Tests herausgefunden haben.«
» Eine schreckliche Vorstellung«, sagte Inga Jäger und musste sich sammeln.
» Ja«, sagte Gebert leise und schüttelte den großen Kopf. » Unfassbar. Aber inwiefern ist das der extremste Fall einer dis…, dissi…«
» …dissoziativen Identitätsstörung«, half ihm Professor Götz. » Nun, normalerweise verhält es sich bei einer solchen Störung so, dass beide oder eben mehrere Persönlichkeiten immer nur getrennt voneinander auftauchen und meistens auch überhaupt nichts voneinander wissen. Hier aber ist es anders. Sie sind beide gleichzeitig anwesend. Sie teilen sich ein und denselben Körper, aber kommunizieren nicht unterbewusst oder über Gedanken, sondern reden tatsächlich miteinander.«
» Wie Gollum in Herr der Ringe?«, fragte Inga Jäger.
Professor Götz nickte. » In etwa. Aber Sie werden es ja gleich selbst erleben.«
35
Der Mann hinter den Gitterstäben sah aus wie ein Engel. Oder zumindest so, wie man sich einen Engel vorstellen mochte. Christoph war groß und schlank und wirkte fast zwanzig Jahre jünger, als er in Wahrheit war. Professor Götz hatte ihnen Christophs Alter genannt – achtundvierzig. Er sah aber gerade mal aus wie Anfang dreißig. Sein dunkles, seidig glattes Haar fiel ihm weit bis in den Rücken hinab, und seine Haltung war die eines athletischen Tänzers. Sein ebenmäßiges, androgyn wirkendes Gesicht war das gelassenste, das Inga Jäger je gesehen hatte. Seine fast schwarzen Augen musterten die drei Besucher mit ruhigem Interesse. Nicht die Spur eines Bartschattens. Die nackte breite Brust hob und senkte sich langsam unter entspanntem Atmen. Inga Jäger erkannte alte Brandnarben und schlecht verheilte Schnitte an seinem ganzen Oberkörper und den sehnigen Armen und war sich sicher, dass sich auch unter der weiten Anstaltshose welche verbargen. Sie bemühte sich, sich nicht auszumalen, wie er als Kind misshandelt worden war … und scheiterte.
» Wen hat der Professor denn heute mitgebracht?«, fragte er. Seine Stimme war dunkel und samtig. Beinahe schon gespenstisch sanft.
Inga Jäger wollte sich vorstellen, aber Professor Götz bedeutete ihr mit einem Blick und einem kaum merklichen Kopfschütteln zu schweigen.
» Ich habe keine
Weitere Kostenlose Bücher