Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)

Verhalten?«, fragte Inga Jäger.
    Professor Götz schüttelte den Kopf. » Nicht nur kein periodisches. Es gibt gar keines. Den medizinischen Unterlagen zufolge hat sich seine menschliche Seite schon seit über fünfunddreißig Jahren nicht mehr gezeigt.«
    Der Patient hatte inzwischen aufgehört zu schreien und zog sich mit misstrauisch auf sie gerichtetem Blick in eine Ecke seiner Zelle zurück, wo er sich hinhockte und mit nervösen Fingern an seinem schlaff herabhängenden Penis zu spielen begann. Sein hektisches Atmen verlangsamte sich allmählich.
    » Man kann ihn nicht vernehmen?«, fragte Inga Jäger, obwohl sie die Antwort ahnte.
    » Nicht mehr, als Sie einen wirklichen Gorilla befragen könnten.«
    » Dann schließen Sie die Tür bitte wieder, und führen Sie uns zu dem zweiten Patienten.«

34
    Die zweite Tür der hinteren Kammer im Sicherheitsblock der Psychiatrie führte über eine enge, gewundene Treppe hinab in den Keller. Mittlerweile fragte sich Inga Jäger, ob es wirklich so klug gewesen war, hierherzukommen– zumal es ihr bei dem Gedanken graute, den Weg zwischen den Zellen hindurch nachher noch einmal gehen zu müssen. Aber sie mussten sich unbedingt vergewissern, ob die Morde so dicht bei der Anlage nicht vielleicht von einem der Insassen begangen worden waren.
    Es war totenstill, und die Atmosphäre wurde mit jeder Stufe, die weiter nach unten führte, beklemmender, so als würde man in eine Gruft hinabsteigen.
    » Der Patient, den wir jetzt aufsuchen«, sagte Professor Götz, und Inga Jäger war froh, dass er die gespenstische Stille unterbrach, » leidet unter der extremsten Form einer dissoziativen Identitätsstörung, die ich in meiner langen Laufbahn je erlebt habe. Auch in der Fachpresse gibt es keinen vergleichbaren Fall.«
    » Dissoziative Identitätsstörung?«, fragte Inga Jäger. » Sie meinen eine multiple Persönlichkeit?«
    » Sie haben ganz offenbar Ihre Hausaufgaben sehr gründlich gemacht, Frau Staatsanwältin«, sagte Professor Götz. » Multiple Persönlichkeit. So nannten wir das früher.«
    » Es gibt sie Ihrer Ansicht nach also wirklich?« Sie gab sich keinerlei Mühe, ihre durch eigene Recherchen auf dem Gebiet genährte Skepsis zu verbergen. » Die Kritiker sind da ganz anderer Meinung. Sie glauben, dass Persönlichkeitsspaltungen lediglich Folgeschäden einseitiger Therapieansätze sind. Dass…«
    » Ich weiß genau, worauf Sie damit hinauswollen«, unterbrach sie der Klinikleiter, und er klang nachvollziehbarerweise ein wenig ungehalten. » Aber…«
    » Ich leider nicht«, unterbrach nun Gebert ihn. » Worauf wollen Sie denn hinaus?«
    » Nun ja, es gibt zahlreiche und durchaus kundige Stimmen, die behaupten«, sagte sie, » dass Persönlichkeitsspaltungen erst durch Therapeuten hervorgerufen werden.«
    » Wie das?«, fragte Gebert.
    » Aktive, einseitige Befragungen und Hypnose«, setzte sie weiter auseinander, » können bei ohnehin anfälligen Patienten wie eine Gehirnwäsche wirken und neue, aber falsche Erinnerungen schaffen– wie zum Beispiel an einen Missbrauch, der in Wahrheit nie stattgefunden hat. Und da der Patient die dann verschiedenen Erinnerungen nicht mehr mit einer einzigen Person in Einklang bringen kann, weil sie sich zum Beispiel zeitlich oder räumlich gegenseitig ausschließen, schafft sein Verstand oder sein Unterbewusstsein einfach eine zweite Persönlichkeit. Das ist übrigens auch die große Gefahr bei Jahrmarktshypnose, wenn Menschen sich hypnotisieren lassen, um herauszufinden, ob sie schon einmal ein früheres Leben geführt haben. Die Befragung des Hypnotiseurs unter Trance ist dabei meistens so intensiv auf irgendeine bestimmte Person aus der Historie gerichtet, dass der Hypnotisierte die suggerierten Bilder in seinem Kopf zu etwas formt, das er wie eine tatsächliche Erinnerung wahrnimmt. Deswegen sind Menschen, die angeblich schon einmal gelebt haben, auch nie Lieschen Müllers oder Karl Schmidts, sondern immer Napoleon oder Cleopatra oder Ramses oder Jeanne d’Arc– weil der Hypnotiseur sie publikumswirksam ganz gezielt in diese spektakulären Persönlichkeiten hineinführt.«
    » Das Gleiche gilt für übereifrige Polizisten, die Kinder, bei denen der Verdacht auf Missbrauch besteht, so intensiv nach den ihnen bekannten Mustern befragen, dass selbst das unberührteste Kind am Ende glaubt, missbraucht worden zu sein«, wandte Professor Götz ungeduldig ein. » Oder für eine überbehütende Mutter, die ihrem Sohn aus Angst, er