Ihr wahrer Name
Deutschland. Ich hingegen kam aus einem Lager; ich hatte ein Lager überlebt. Ich stamme aus einem Land, das die Nazis in ihre Gewalt gebracht hatten. Und dieser Mann hat sich in den Nachkriegswirren einfach mir angeschlossen, um ein Visum für die Vereinigten Staaten zu bekommen.« Er sah seine Hände an, als schäme er sich schrecklich.
»Fühlen Sie sich in der Lage, uns von diesen Alpträumen zu erzählen, die Sie dazu gebracht haben, Rhea Wiell aufzusuchen?« fragte Beth Blacksin ihn.
Rhea Wiell streichelte aufmunternd Radbukas Hand. Er hob den Blick und sprach mit fast schon kindlicher Unbefangenheit in die Kamera.
»Diese Alpträume verfolgten mich. Ich konnte nicht laut darüber sprechen und habe sie nur im Schlaf durchlebt. Es kamen schreckliche Dinge darin vor, Prügel, tote Kinder im Schnee, rund um sie herum Blutflecken, die aussahen wie Blumen. Jetzt kann ich mich dank Rhea wieder an die Zeit erinnern, in der ich vier Jahre alt war. Wir waren unterwegs, dieser fremde, zornige Mann und ich, zuerst auf einem Schiff und dann in einem Zug. Ich hab' immerzu geweint: >Meine Miriam, wo ist meine Miriam? Ich will meine Miriam zurück.< Aber der Mann, der die ganze Zeit behauptet hat, mein Vater zu sein, hat mich geschlagen, und irgendwann habe ich dann gelernt, nicht mehr zu weinen.«
»Und wer war diese Miriam, Mr. Radbuka?« fragte Beth Blacksin, die Augen geweitet vor Mitgefühl.
»Miriam war meine kleine Spielkameradin. Als ich sie das erste Mal gesehen habe, war ich erst zwölf Monate alt.« Radbuka begann zu weinen.
»Sie ist zusammen mit Ihnen in das Lager gekommen, stimmt's?« meinte Beth Blacksin. »Wir haben zusammen zwei Jahre in Terezin verbracht. Insgesamt waren wir zu sechst, heute sehe ich uns als die sechs Musketiere, aber meine Miriam war mir die wichtigste. Ich wünsche mir so, daß sie noch am Leben und gesund ist. Vielleicht erinnert sie sich ja sogar noch an ihren Paul.« Er schlug die Hände vors Gesicht; seine Schultern bebten.
Plötzlich schob sich Rhea Wiell zwischen ihn und die Kamera. »Hören wir jetzt lieber auf, Beth. Mehr möchte ich Paul heute nicht zumuten.«
Nun erschien wieder Dennis Logan auf dem Bildschirm. »Diese traurige Geschichte läßt nicht nur Paul Radbuka, sondern auch Tausende von anderen Holocaust-Überlebenden nicht los. Wenn jemand von Ihnen glaubt, Pauls Miriam zu kennen, wählen Sie die eingeblendete Nummer oder besuchen Sie uns im Internet unter www.Globe-All.com
. Wir sorgen dafür, daß Paul Radbuka Ihre Botschaft erhält.«
»Widerlich«, platzte es aus Carl heraus, als Morrell den Ton wieder leiser stellte. »Wie kann man nur so schamlos mit seinem Leid hausieren gehen?«
»Du klingst ganz wie Lotty«, murmelte Max. »Wahrscheinlich ist sein Leid so groß, daß er gar nicht merkt, wie er damit hausieren geht.«
»Die Menschen reden eben gern über sich selbst«, meldete sich Don zu Wort. »Das macht es den Journalisten so leicht. Sagt Ihnen sein Name etwas, Mr. Loewenthal?«
Max sah ihn fragend an. Er wunderte sich wohl, woher Don seinen Namen kannte. Morrell stellte die beiden einander vor. Don erklärte, er sei wegen der Konferenz nach Chicago gekommen und habe Max im Nachmittagsprogramm gesehen.
»Kennen Sie diesen Radbuka? Seinen Namen oder auch den Mann selbst?« fügte Don hinzu. »Sie sind also ein Journalist, der mich dazu bringen möchte, daß ich über mich selbst rede?« fuhr Max ihn an. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer er ist.«
»Er hat auf mich wie ein Kind gewirkt«, sagte Carl. »Gänzlich unbefangen, obwohl er von haarsträubenden Dingen erzählt hat.«
Das Telefon klingelte. Es war Michael Loewenthal, der meinte, wenn sein Vater Calias Plüschhund habe, möge er doch bitte damit nach Hause kommen.
Max zuckte schuldbewußt zusammen. »Victoria, darf ich dich morgen früh anrufen?« »Natürlich.« Ich holte eine Visitenkarte aus meiner Aktentasche, damit Max auch meine Handynummer hatte, dann begleitete ich Max und Carl zum Wagen. »Habt ihr zwei den Mann erkannt?« Im Licht der Straßenlaterne sah ich, wie Max Carl einen Blick zuwarf. »Den Namen. Der Name ist mir bekannt vorgekommen - aber es ist einfach nicht möglich. Ich rufe dich morgen früh an.« Als ich wieder in die Wohnung kam, merkte ich, daß Don sich erneut mit einer Zigarette auf die Veranda zurückgezogen hatte. Ich gesellte mich zu Morrell in der Küche, der gerade Carls Brandyglas spülte. »Und - haben sie dir da unten, wo der neugierige
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