Ihr wahrer Name
»Waren das Materialien aus dem Archiv? Wirtschaftsberichte und solche Sachen?«
»Zusammenfassungen von Wirtschaftsberichten. Über die Edelweiß wollten sie nur einen kurzen Abschnitt ganz am Ende. Es ist ja die Firmengeschichte der Ajax, also habe ich es nicht für nötig gehalten, mir die Edelweiß-Archive anzusehen.« Sie ging sofort in die Defensive. »Und was stand in den Zusammenfassungen?«
»Große Zahlen. Vermögenswerte und Rücklagen, die Hauptniederlassungen. Nach Jahren aufgelistet. An die Details erinnere ich mich nicht. Ich könnte die Bibliothekarin der Ajax fragen.« Ein paar Männer traten aus einem heruntergekommenen Hof. Sie sahen zuerst mich und dann den Mustang an und hoben bewundernd den Daumen für uns beide. Ich winkte ihnen lächelnd zu. »Ich möchte herausfinden, ob die Edelweiß vor dem Krieg eine Niederlassung in Wien hatte.« Die Umsatzzahlen der Edelweiß waren nicht wichtig, denn vielleicht war das Unternehmen in den dreißiger Jahren tatsächlich nur regional tätig gewesen. Aber es konnte trotzdem sein, daß es Versicherungen an Menschen verkauft hatte, die in den Wirren des Krieges umgekommen waren.
»Das Illinois Insurance Institute hat eine Bibliothek, in der sich etwas für Sie Interessantes befinden könnte«, sagte Amy Blount. »Dort war ich auch im Rahmen meiner Recherchen für die Firmengeschichte der Ajax. Es gibt da ein merkwürdiges Durcheinander von alten Versicherungsdokumenten. Das Institut ist im Insurance Exchange Building am West Jackson Boulevard.«
Ich bedankte mich bei ihr und legte auf. Das Handy klingelte, als ich gerade an der Stelle war, an der Dan Ryan Expressway und Eighty-seventh Street zusammentreffen. Der Schreck darüber, daß ich kurz zuvor fast ein Kind überfahren hätte, brachte mich dazu, mich auf die Straße zu konzentrieren. Die Gedanken an die Edelweiß wurde ich allerdings trotzdem nicht los. Das Unternehmen hatte die Ajax gekauft. Das war ein Coup gewesen, der Erwerb von Amerikas viertgrößtem Sach- und Lebensversicherer zu einem Schleuderpreis. Und dann hatte es sich plötzlich einem Gesetzentwurf gegenübergesehen, in dem es um die Erstattung von Vermögenswerten aus der Zeit des Holocaust ging, darunter auch Lebensversicherungen. So konnte von einem Tag auf den anderen aus der Goldmine ein Bankrottunternehmen werden, wenn es riesige Rückstände in puncto nicht ausbezahlte Lebensversicherungsansprüche gab, die alle gleichzeitig fällig wurden.
Schweizer Banken wehrten sich mit Zähnen und Klauen dagegen, daß die Erben der Holocaust-Opfer Anspruch auf Konten erhoben, die in den hektischen Jahren vor dem Krieg angelegt wurden. Und die europäischen Versicherungen mauerten genauso unnachgiebig. Vermutlich wußten nur sehr wenige Kinder, daß ihre Eltern eine Versicherung abgeschlossen hatten. Selbst wenn manche von ihnen wie Carl mit dem Geld für den Vertreter hinuntergeschickt worden waren, stellte er wahrscheinlich eher die Ausnahme dar, weil er wußte, bei welcher Gesellschaft sein Vater die Versicherung abgeschlossen hatte. Ich selbst war nach dem Tod meines Vaters beim Durchsehen seiner Papiere eher zufällig auf die Unterlagen über seine Lebensversicherung gestoßen.
Wenn nicht nur das Haus zerstört, sondern auch die Familie und der ganze Ort ausgelöscht wurden, hatte man keine Dokumente, auf die man sich berufen konnte. Und wenn man doch seinen Anspruch geltend machte, verfuhr die Gesellschaft genauso mit einem wie mit Carl: Sie bestritt den Anspruch, weil man keine Sterbeurkunde vorweisen konnte. Banken und Versicherungen waren wirklich skrupellose Haie.
Wieder klingelte das Handy, doch ich nahm es nur vom Sitz, um es abzuschalten. Wenn Hoffmans Bücher eine Auflistung von Lebensversicherungen von Leuten wie Carls oder Max' Vater enthielten, also von Leuten, die in Treblinka oder Auschwitz gestorben waren, wäre diese Liste nicht so lang, daß die Edelweiß durch die Befriedigung der Ansprüche hohe Verluste erleiden würde. Dann hätten lediglich einige Hundert Menschen die Gewißheit, daß ihre Eltern oder Großeltern Versicherungen abgeschlossen hatten. Den großen Ansturm auf die Edelweiß würde es nicht geben.
Es sei denn natürlich, die verschiedenen Bundesstaaten begannen, Entschädigungsgesetze wie das zu verabschieden, das die Ajax in der Woche zuvor torpediert hatte. Dann würde die Gesellschaft eine Prüfung der Policenakten über sich ergehen lassen müssen - und zwar bei allen der ungefähr hundert
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