Ihr wahrer Name
ließ den Anrufbeantwortungsdienst rangehen, während ich mich weiter mit Vokabular und Grammatik einer Sprache abmühte, die meine bescheidenen Fähigkeiten überstieg.
La revue d'histoire financiere et commerciale vom Juli 1979 hatte einen Artikel, in dem es um deutsche Unternehmen zu gehen schien, die Märkte aufbauen wollten in den Ländern, welche Deutschland während des Krieges besetzt hatte. »Le nouveau geant economique« mache seine Nachbarn nervös, hieß es darin. In einem Absatz des Artikels stand, die größte Schweizer Versicherungsgesellschaft habe ihren Namen von Nesthorn in Edelweiß geändert, weil es zu viele Menschen gebe, die sich an die »histoire peu agreable« von Nesthorn erinnerten. An die weniger angenehme Geschichte von Nesthorn? Das konnte sich doch nicht auf den Verkauf von Lebensversicherungen beziehen, aus denen die Ansprüche dann später nicht befriedigt wurden. Es mußte mit etwas anderem zu tun haben. Ob das in den folgenden Artikeln stand? Ich schickte sie Morrell per E-Mail, der keine Schwierigkeiten hat, Französisch zu lesen. Erklärt irgendeiner dieser Artikel, was die Nesthorn in den vierziger Jahren getan hat, um von den europäischen Nachbarn als »weniger angenehm« eingeschätzt zu werden? Wie kommst Du mit Deinem Antrag fiür eine Reise zur nordwestlichen Grenze voran? Dann drückte ich auf die Sende-Taste und dachte, wie merkwürdig, daß Morrell, der mehr als zwanzigtausend Kilometer entfernt war, meine Worte praktisch zur gleichen Zeit sehen konnte, wie ich sie schickte. Ich lehnte mich mit geschlossenen Augen auf meinem Stuhl zurück und erinnerte mich an Fillida Rossy während jenes Abendessens, als sie die Finger über das Silberbesteck mit dem »H« auf dem Griff hatte gleiten lassen. Was ihr gehörte, berührte sie, packte sie - oder was sie berührte, gehörte ihr. Dieses unablässige Nesteln an den Haaren ihrer Tochter und dem Pyjamakragen ihres Sohnes. Meine Hand hatte sie auf die gleiche beunruhigende Art gestreichelt, als sie mich am Dienstag abend ihren Gästen vorstellte.
Konnte sie die Edelweiß so sehr als ihr Eigentum betrachten, daß sie bereit war zu töten, um das Unternehmen vor Anspruchstellern zu schützen? Paul Hoffman-Radbuka war sich so sicher gewesen, daß eine Frau auf ihn geschossen hatte. Grimmiges Gesicht, Sonnenbrille, großer Hut. Konnte das Fillida Rossy gewesen sein? Hinter ihrer lässigen Fassade war sie jedenfalls gebieterisch genug. Mir fiel ein, wie Bertrand Rossy eine andere Krawatte angezogen hatte nach ihrer Bemerkung, das Muster sei doch sehr gewagt. Und auch ihre Freunde hatten tunlichst alle Gesprächsthemen vermieden, die sie möglicherweise verärgerten.
Doch auch Alderman Durham spielte eine Rolle in der Geschichte. Colby, der Cousin meines Klienten, der während des Einbruchs bei Amy Blount Schmiere gestanden und meinen Klienten an die Polizei verpfiffen hatte, war in Verbindung mit Durhams EYE-Team. Und das Treffen zwischen Durham und Rossy am Dienstag - hatte Rossy sich bereit erklärt, den Holocaust Recovery Act zum Ausgleich dafür zu kippen, daß Durham ihm eine Killerin vermittelte, die Paul Hoffman-Radbuka erschießen würde? Durham war ein so gerissener Politiker, da konnte ich es kaum glauben, daß er etwas tun würde, was geradezu zur Erpressung herausforderte. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, daß ein so kultivierter Mann wie Rossy sich in eine Auftragsmordgeschichte verwickeln lassen würde. Es war kaum nachzuvollziehen, warum sie sich gegenseitig in eine so plumpe Angelegenheit wie den Einbruch in Amy Blounts Apartment hineinziehen würden.
Ich rief in Durhams Büro an. Seine Sekretärin fragte mich, wer ich sei und was ich wolle.
»Ich bin Detektivin«, sagte ich. »Mr. Durham und ich haben uns letzte Woche schon einmal kurz getroffen. Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß ich im Rahmen meiner gerade laufenden Ermittlungen in einem Mordfall auf die Namen einiger entfernter Anhänger seines wunderbaren Empower-Youth-Energy-Projekts gestoßen bin. Bevor ich diese Namen an die Polizei weitergebe, wollte ich Alderman Durham den Gefallen tun, ihm zuerst davon zu erzählen.«
Die Sekretärin legte mich in die Warteschleife. Während ich wartete, dachte ich noch einmal über die Rossys nach. Vielleicht konnte ich schnell bei ihnen vorbeifahren, um zu sehen, ob ihr Hausmädchen Irina mit mir sprechen würde. Wenn sie den Rossys ein Alibi für vergangenen Freitag abend geben konnte, nun, dann kamen
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