Ihr wahrer Name
einstanden.
Nach dem Krieg, als die Briten eine gewisse Zahl von Kindern aus den Lagern ins Land ließen, damit sie lernten, in einer Welt ohne Schrecken zu leben, kümmerte Anna Freud sich um diese sechs, weil sie noch viel zu jung für alle anderen Programme waren. Außerdem handelte es sich um eine so geschlossene Gruppe, daß die Sozialarbeiter Angst hatten, sie zu trennen, denn das hätte ihre traumatischen Erfahrungen nur noch verstärkt. Sie standen sich alle sehr nahe, aber zwei von ihnen hatten ein besonders enges Verhältnis zueinander: Paul und Miriam.
Paul und Miriam. Anna Freud, die Paul Hoffman seine Retterin in England nannte und deren Foto er aus ihrer Biographie geschnitten und in seiner geheimen Kammer aufgehängt hatte. Anna Freuds Paul, geboren in Berlin 1942, im Alter von zwölf Monaten nach Theresienstadt geschickt, genau wie Paul Hoffman in dem Fernsehinterview behauptet hatte. Der einzige von den sechs, über dessen Familie nichts bekannt war. Wenn man also Paul hieß, der Vater Deutscher war und einen mißhandelte, einen in eine Kammer sperrte, einen verprügelte, sobald man sich seiner Meinung nach zu weibisch verhielt, nun, dann konnte man schon auf die Idee kommen, die Geschichte der Kinder in den Lagern sei die eigene.
Doch Paul und Miriam waren nicht die richtigen Namen der Kinder von Anna Freud. Sie hatte Kodenamen verwendet, um ihren Privatbereich zu schützen. Aber das hatte Paul Hoffman nicht begriffen. Er hatte den Artikel gelesen, die Geschichte aufgesogen, sich seine kleine Spielkameradin Miriam vorgestellt, um die er in den letzten Wochen im Fernsehen so bitterlich geweint hatte.
Ich bekam eine Gänsehaut, und plötzlich verspürte ich große Sehnsucht nach meinem Zuhause und meinem Bett, nach einem Rückzugsort vor den erschütternden Traumata anderer Menschen. Ich war nicht in der Stimmung, in Richtung Norden nach Evanston zu fahren, also steckte ich Ninshuburs kleines Halsband in einen wattierten Umschlag, schrieb die Londoner Adresse von Michael Loewenthal darauf und dazu eine Notiz für den Zoll: Gebrauchte Ware ohne Wert. Dann klebte ich Luftpostmarken darauf und steckte das Ganze in einen Briefkasten. Auf dem Nachhauseweg hielt ich die Augen offen, aber weder Fillida noch das EYE-Team schien mir zu folgen.
Ich war froh, als Mr. Contreras mich bei meiner Rückkehr aufhielt. Als er hörte, daß ich den ganzen Tag außer einem Apfel nichts gegessen hatte, rief er aus: »Kein Wunder, daß Sie so niedergeschlagen sind, Schätzchen. Ich hab' Spaghetti auf dem Herd. Die sind zwar nicht selbstgemacht, wie Sie's gewöhnt sind, aber einen leeren Magen füllen die auch.« Er hatte recht - ich aß zwei Teller voll. Hinterher fuhren wir mit den Hunden in einen Park und ließen sie in der Dunkelheit herumtollen. Ich ging früh ins Bett. In der Nacht quälte mich wieder einmal mein schlimmster Alptraum, in dem ich meine Mutter suchte und sie erst fand, als sie ins Grab gesenkt wurde, in so viele Verbände gehüllt und an so viele Schläuche angeschlossen, daß sie mich nicht sehen konnte. Ich wußte, daß sie lebte, mich hören konnte, aber sie gab mir kein Zeichen. Ich erwachte weinend und mit Lottys Namen auf den Lippen. Hinterher lag ich eine Stunde wach, lauschte auf die Geräusche der Welt draußen und fragte mich, was die Rossys gerade taten, bevor ich schließlich wieder in unruhigen Schlaf verfiel.
Um sieben stand ich auf, um mit den Hunden zum Lake zu rennen, während Mr. Contreras uns mit meinem Mustang folgte. Er machte sich große Sorgen, daß ich in Gefahr schweben könnte; mir war klar, daß er sich erst wieder beruhigen würde, wenn die Geschichte mit der Edelweiß geklärt war. Der Lake war noch warm, obwohl die Septembertage immer kürzer wurden, und so ging ich mit den Hunden ins Wasser. Während Mr. Contreras Stöcke für sie warf, schwamm ich zum nächsten Felsen hinaus und wieder zurück. Als ich mich zu den dreien gesellte, war ich müde, aber erfrischt, und die Alpträume der Nacht verblaßten.
Während wir nach Hause fuhren, schaltete ich das Radio ein, um die Nachrichten zur vollen Stunde zu hören. Präsidentschaftswahlen, hla bla, Gewalt an der West Bank und in Gaza, hla hla. Und nun zu den wichtigsten Ereignissen der Region: Die Polizei hat die Identität einer Frau bekanntgegeben, deren Leiche am frühen Morgen im Sundown Meadow Forest Preserve gefunden wurde. Ein Paar entdeckte die Leiche, als es heute um kurz vor sechs mit seinen Hunden im Wald
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